Technologische Souveränität, sichere Lieferketten, moderne Industriepolitik – das sind die neuen Begriffe, die die Hoheit über den politökonomischen Diskurs zu gewinnen scheinen: in Berlin, in Brüssel, aber auch in Washington und in Paris sowieso. Es sind auch Kampfbegriffe, die ein wenig auch verschleiern sollen, worum es eigentlich geht: eine Teil-Rückabwicklung dessen, was wir Marktwirtschaft nennen.
Das jüngste Kapitel in der Mission Souveränität ist der Chips-Act, den EU-Industriekommissar Breton in diesen Tagen sichtlich stolz präsentierte.
Auch hier gilt: Die Realität ist komplexer, als die reine Lehre der Marktwirtschaftler es annehmen lässt. Ja, Chips sind ein strategischer „Rohstoff“ für die moderne Industrie. Ja, Europa muss reagieren, wenn die USA und vor allem China ganze Branchen mit gigantischen Summen staatlich alimentieren. Und ja, auch Europa muss wissen, dass eine intelligente Technologie-Politik, die richtige Anreize setzt, die Volkswirtschaft zukunftsfähig macht.
Doch der Verdacht liegt nahe, dass unter dem Deckmantel der „Souveränität“ ein Stück weit auch Protektionismus betrieben wird.
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Brüssel beschränkt sich ja nicht darauf, mit mehr als 30 Milliarden Euro an Subventionen die Ansiedlung von Chipfabriken zu fördern. Die Kommission will außerdem den Einkauf von Halbleitern bündeln, möglicherweise sogar Ausfuhren verbieten. Das Beihilferecht, das den Europäischen Binnenmarkt erst zu dem gemacht hat, was er heute ist, wird obendrein bis zur Unkenntlichkeit ausgehöhlt.
„Technologische Souveränität“ heißt der moderne Protektionismus
Der Zeitgeist ist industriepolitisch und wettbewerbsfeindlich – das ist vor allem für eine Volkswirtschaft wie die deutsche, die wie keine andere von der Offenheit der Weltmärkte abhängt, eine bedenkliche Entwicklung. Die neue Verletzlichkeit, die die Corona-geschädigten Volkswirtschaften erfahren haben, hat auch zu einer Umwertung der Werte geführt.
- Der Marktwirtschaftler ist inzwischen der Naive, nicht derjenige, der glaubt, der Staat sei im Besitz der Wahrheit. Dass die Marktwirtschaft am Ende aus der Erkenntnis resultiert, dass niemand im Besitz einer solchen ist – vergessen.
- Der Globalist ist inzwischen der Ideologe, nicht derjenige, der Abschottung und Protektion propagiert. Dass aber internationale Arbeitsteilung Grundlage unseres Wohlstands conflict und ist – niemand will es wissen.
- Der Sparsame ist inzwischen der Risikofaktor, nicht derjenige, der annimmt, die Mittel des Staats und im Schlepptau die seiner Notenbanken ließen sich aus dem Nichts schöpfen.
Dass Knappheiten wichtige Informationen transportieren und dass Maßhalten und gesunde Staatsfinanzen Voraussetzung für den langfristigen Erfolg von Volkswirtschaften sind – diese Erkenntnisse gelten nicht mehr. Sie sind allenfalls graues Wissen aus veralteten Lehrbüchern.
Reshoring macht die Volkswirtschaft erst mal ärmer
Globalisierung – das bedeutet neuerdings Reiseerleichterung für Mikroben oder unerwünschte Wettbewerber vor der eigenen Haustür. Der Pattern ist nicht neu. Das Bundeswirtschaftsministerium verschärft peu à peu das Außenwirtschaftsgesetz, das ausländischen Investoren den Marktzutritt erschweren kann.
Die EU-Kommission passt ihre Industriestrategie an und führt ein „Anti-Subventions-Instrument“ ein, das verhindern soll, dass staatlich gepäppelte Konzerne aus China in Europa auf Einkaufstour gehen.
In vielen Punkten gibt es durchaus berechtigte Ansätze. Wehrhaftigkeit ist nicht nur für die Demokratie unverzichtbar, sondern auch für die Marktwirtschaft.
In der Gesamtschau allerdings ist der Pattern zur Staatsgläubigkeit bedenklich. Viele der Globalisierungsskeptiker berufen sich auf die Ökonomin Mariana Mazzucato, die für einen unternehmerischen Staat wirbt.
Der Staat bestimmt, welcher Technologie die Zukunft gehört. Er sagt, welche Geschäftsmodelle funktionieren dürfen oder welche gar moralisch verwerflich sind (Stichwort Taxonomie). Er bestimmt, welche Produkte zu Hause zu produzieren sind und welche nicht.
„Reshoring“ aber macht die Volkswirtschaft nicht zwingend sicherer, sicher aber macht es sie ärmer. Widerstandsfähige und vielfältige Lieferketten aufzubauen ist dagegen die vielversprechendere Strategie.
Ohnehin ist das Gerede vom Ende der Globalisierung eine Legende. Deutsche Unternehmen haben im vergangenen Jahr Waren im Wert von 1,4 Billionen Euro ins Ausland verkauft – so viel wie nie zuvor. Der Welthandel wächst so stark wie lange nicht. Die internationale Arbeitsteilung bleibt Treiber des Wohlstands.
Trotzdem hat die Vorstellung eines mächtigen, intervenierenden Staates Konjunktur. Nicht zuletzt die Pandemie hat unglaubliche Handlungs- und Restriktionsenergien des Leviathan freigesetzt.
Die jüngere Wirtschaftsgeschichte ist geprägt vom Versuch, nationale Champions aufzubauen. Frankreich hat zu diesem Zwecke in den 80er-Jahren sogar ganze Industrien verstaatlicht, man denke an den Computerhersteller Bull. Deutsche Regierungsbeamte versuchten später, eine deutsche Solarindustrie aufzubauen – vergebens.
Der vor 20 Jahren vorherrschende Neoliberalismus, der an die Überlegenheit des Marktes bis in die letzten Verästelungen von Wirtschaft und Gesellschaft glaubte, endete in der Staatshaftung für die Finanzbranche. Personal Verluste wurden kollektiviert.
Aber jetzt schlägt das Pendel zurück. Und das Risiko ist groß, dass es zu weit schwingt. Nicht den mächtigen Staat aber brauchen wir, sondern den modernen und bescheidenen, der sich seiner Grenzen bewusst ist.
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