Berlin Während die Menschen in den umkämpften Städten in der Ukraine fliehen, gehen die Kampfhandlungen weiter. Die Ukraine hat Russland einen Angriff auf eine Geburtsklinik in der umkämpften Hafenstadt Mariupol vorgeworfen. Präsident Wolodimir Selenski veröffentlichte am Mittwoch im Kurznachrichtendienst Twitter ein Video, das völlig verwüstete Räume der Klinik zeigen soll.
Demnach müssen eines oder mehrere Geschosse oder Bomben im Hof des Klinikkomplexes eingeschlagen sein. Die Druckwelle zerstörte Scheiben, Möbel und Türen, wie im Video zu sehen ist.
Das Gelände rund um das Gebäude am Asowschen Meer im Südosten des Landes conflict mit Trümmern übersät. Der ukrainische Präsident sprach von einer Gräueltat: „Angriff russischer Truppen auf die Entbindungsstation. Menschen, Kinder sind unter den Trümmern“, schrieb Selenski.
Nach Angaben der lokalen Behörden wurden mehrere Bomben abgeworfen. Das ließ sich nicht überprüfen. „Die Zerstörung ist enorm“, teilte der Stadtrat mit.
17 Menschen seien dabei verletzt worden, darunter Frauen in den Wehen, sagte der Gouverneur der Donezk-Area, Pawlo Kyrylenko. In der Klinik seien kürzlich noch Kinder behandelt worden.
Selenski forderte als Konsequenz aus dem Angriff einmal mehr eine Flugverbotszone über der Ukraine. Die Nato hat das aber bislang strikt abgelehnt.
Von russischer Seite lag zunächst keine Stellungnahme vor. Moskau betont stets, keine zivilen Ziele zu attackieren. Seit dem Einmarsch russischer Truppen sollen allein in der Hafenstadt nach Angaben der ukrainischen Seite dennoch mindestens 1170 Zivilsten getötet worden sein. „47 sind heute in einem Massengrab beerdigt worden“, zitiert eine staatliche Informationsagentur den stellvertretenden Bürgermeister der Stadt, Serhii Orlow. die Angaben sind nicht unabhängig überprüfbar.
Fest steht aber: Mariupol wird seit Tagen von russischen Truppen belagert. Mehrere vereinbarte Versuche, Menschen über Fluchtkorridore in Sicherheit zu bringen, scheiterten. Beide Seiten gaben sich dafür gegenseitig die Schuld. Das Rote Kreuz bezeichnete die Lage dort als apokalyptisch. Es sollen Trinkwasser, Lebensmittel und Medikamente fehlen.
Die britische Regierung verurteilte den mutmaßlichen Angriff auf Schärfste. „Es gibt wenige Dinge, die verkommener sind, als die Verletzlichen und Hilflosen ins Visier zu nehmen“, schrieb Premierminister Boris Johnson am Mittwoch auf Twitter. Die britische Außenministerin Liz Truss sprach bei einer Pressekonferenz im Anschluss an ein Gespräch mit ihrem US-Kollegen Antony Blinken von einem „abscheulichen, skrupellosen und entsetzlichen“ Angriff.
Evakuierung der Zivilbevölkerung unter erschwerten Bedingungen
Kiew und Moskau wollten an Tag 14 des Krieges Hunderttausenden ermöglichen, zu fliehen. Russland verkündete dazu am Mittwochmorgen eine Feuerpause bis 20 Uhr MEZ. Die Ukraine stimmte sechs mit Moskau abgestimmten Fluchtrouten zu – auch aus Kiew.
Doch erneut scheiterte offenbar ein Großteil der Versuche, Zivilisten über die abgesprochenen Wege zu evakuieren. Beide Seiten hielten sich gegenseitig vor, geplante Feuerpausen gebrochen oder nicht eingehalten zu haben. Die Angaben beider Seiten sind nicht unabhängig überprüfbar.
Ukrainische Kräfte haben nach eigenen Angaben über 40.000 Menschen an einem Tag aus Kampfgebieten evakuieren können. Allerdings sei am Mittwoch die Flucht von 100.000 Menschen geplant gewesen, twittert David Arachamia, einer der ukrainischen Unterhändler bei den Verhandlungen mit Russland über die Schaffung von humanitären Korridoren.
Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba sagte: „Russland hält weiterhin über 400.000 Menschen in Mariupol als Geiseln, blockiert humanitäre Hilfe und Evakuierung.“ Einen gescheiterten Fluchtversuch meldeten auch lokale Behörden in Butscha, einem Ort vor Kiew. Demnach hinderten russische Soldaten einen Konvoi von 50 Bussen daran, Butscha zu verlassen.
In anderen Orten klappten dagegen die Abtransporte der Zivilisten. Nach Darstellung lokaler Beamter gelang dies unter anderem in Sumy in der Ostukraine und Enerhodar im Süden.
Menschen aus Mariupol und Enerhodar sollten nach Saporischschja im Südosten der Ukraine gebracht werden. Weitere Routen führen aus Wolnowacha nach Pokrowsk und aus Sumy nach Poltawa. Zudem seien Wereschtschuk zufolge Fluchtkorridore für die Stadt Isjum im Osten sowie für mehrere Kleinstädte nördlich von Kiew vorgesehen.
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Russland hat einen Bruch der vereinbarten Waffenruhe zurückgewiesen. Sie sei strikt eingehalten worden, sagte Generaloberst Michail Misinzew vom russischen Verteidigungsministerium am Mittwoch in Moskau nach Angaben der Staatsagentur Tass.
Er warf vielmehr der Ukraine vor, russische Stellungen in den Vororten von Kiew, Charkiw, Mariupol und Sumy beschossen zu haben. Diese Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.
Menschen fliehen über Fluchtkorridor aus Irpin
Präsident Selenski forderte die internationale Gemeinschaft derweil in seiner täglichen Fernsehansprache auf, eine Flugverbotszone einzurichten. Russland setze Raketen, Flugzeuge und Hubschrauber ein, „gegen Zivilisten, gegen unsere Städte, gegen unsere Infrastruktur“. Es sei die Pflicht der Welt, darauf zu reagieren. Sollte sie dies nicht tun, so Selenski, drohe dem Land eine „humanitäre Katastrophe“.
Nach Angaben von Selenskis außenpolitischen Beraters Ihor Showkwa schließt die Ukraine nicht aus, in Verhandlungen mit Russland auch über eine mögliche Neutralität des Landes zu sprechen. Der Berater forderte in den ARD-„Tagesthemen“ ein direktes Gespräch Selenskis mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin.
Die militärischen Fronten schienen am Mittwoch weitgehend statisch. Nach ukrainischen Angaben gab es wieder Angriffe auf mehrere Städte und dabei Tote und viele Verletzte.
Scholz telefoniert mit Putin
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) telefonierte indes erneut mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Die Spitzenpolitiker hätten „politisch-diplomatische Anstrengungen“ zur Lösung des Konflikts besprochen, teilte der Kreml am Mittwoch in Moskau mit. Das Bundespresseamt in Berlin bestätigte das Telefonat.
Der Kreml teilte weiter mit, Putin habe mit Scholz auch über die russischen Verhandlungen mit der Ukraine gesprochen. Von deutscher Seite wurde über Inhalte nichts mitgeteilt. Beide Seiten hatten sich zuletzt am Montag in Belarus ausgetauscht, ohne dass nennenswerte Fortschritte bekannt wurden.
Zudem habe Putin Scholz über die Rettungsmaßnahmen für Zivilisten in umkämpften ukrainischen Städten informiert, erklärte der Kreml. Putin warf demnach ukrainischen Einheiten vor, die Evakuierungen zu behindern. Die Ukraine hält ihrerseits Russland vor, die Fluchtkorridore zu beschießen. „Es wurde vereinbart, die Kontakte auf verschiedenen Ebenen fortzusetzen“, hieß es vom Kreml abschließend über das Telefonat.
EU: Sanktionen werden erweitert
Die EU-Staaten haben sich angesichts des anhaltenden Kriegs auf eine erneute Ausweitung der Sanktionen gegen Russland und dessen Partnerland Belarus verständigt. Wie die EU-Kommission in Brüssel mitteilte, werden 14 weitere russische Oligarchen und prominente Geschäftsleute auf die Liste derjenigen Personen kommen, deren Vermögenswerte in der EU eingefroren werden und die nicht mehr einreisen dürfen. Zudem sind ein Verbot für die Ausfuhr von Schifffahrtsausrüstung sowie der Ausschluss dreier belarussischer Banken aus dem Kommunikationsnetzwerk Swift vorgesehen.
Auf den von der Ukraine geforderten Stopp von Energieimporten aus Russland konnten sich die EU-Staaten auch nach einem entsprechenden Beschluss der USA weiter nicht verständigen.
Kein Boykott russischer Energielieferungen
Die Bundesregierung sieht weiter keine Möglichkeit für einen sofortigen Boykott russischer Energielieferungen nach dem Vorbild der USA. Die USA seien Exporteur von Gasoline und Öl, was man für Europa insgesamt nicht sagen könne, betonte Bundeskanzler Scholz in Berlin bei einer Pressekonferenz mit Kanadas Premierminister Justin Trudeau. „Und deshalb sind die Dinge, die getan werden können, auch unterschiedlich.“ Die Spritpreise in Deutschland stiegen am Mittwoch weiter kräftig an.
Die USA haben als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine am Dienstag ein Importverbot für Öl aus Russland erlassen. Großbritannien will seine Ölimporte aus Russland zuerst bis Jahresende senken und dann kein Öl mehr von dort importieren.
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Kremlsprecher Peskow warf den USA vor, sie führten einen Wirtschaftskrieg gegen Russland. Er betonte, dass Russland ein zuverlässiger Öl- und Gaslieferant sei, drohte aber gleichzeitig mit Einschränkungen. „Feindselige Exzesse des Westens“ machten „die State of affairs sehr kompliziert und lassen uns intensiv darüber nachdenken“, sagte Peskow mit Blick auf die massiven Sanktionen gegen Russland. Zuvor hatte Vize-Regierungschef Alexander Nowak offen mit einem Gasoline-Lieferstopp durch die Pipeline Nord Stream 1 gedroht.
Indes forderte die Unionsfraktion im Bundestag einen Stopp des Gasbezugs über die Pipeline Nord Stream 1. Dies würde „eine neue Qualität in den Sanktionen bedeuten“, sagte Fraktionschef Friedrich Merz am Mittwoch in Berlin.
Angesichts der „massiven Kriegsverbrechen“ Russlands in der Ukraine sei eine solche Eskalation notwendig, „Das ist eine Einschränkung der Gasversorgung der Bundesrepublik Deutschland“, räumte Merz ein. „Wir sind der Meinung, dass wir das akzeptieren müssten angesichts der Lage, die dort entstanden ist.“
Streit um Kampfjets für die Ukraine
Der Vorschlag des polnischen Außenministeriums, der Ukraine Kampfflugzeuge zu überlassen, stieß bei Scholz auf Ablehnung. Er verwies auf Finanzhilfen, humanitäre Unterstützung und die Lieferung einzelner Waffensysteme. „Und ansonsten ist es aber so, dass wir sehr genau überlegen müssen, was wir konkret tun. Und dazu gehören ganz sicherlich keine Kampfflugzeuge“, sagte Scholz.
Das polnische Außenministerium hatte am Dienstagabend einen Plan zur indirekten Überlassung von Kampfflugzeugen an die Ukraine vorgestellt: Die Regierung in Warschau sei bereit, Jets vom Typ MiG-29 auf den US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein in Rheinland-Pfalz zu verlegen und sie den USA zur Verfügung zu stellen.
Das US-Verteidigungsministerium bezeichnete den Vorschlag umgehend als „nicht haltbar“. Es verwies unter anderem auf die geopolitische Bedenken, wenn Kampfjets von einem US- beziehungsweise Nato-Stützpunkt in den umkämpften ukrainischen Luftraum flögen.
Mit Agenturmaterial
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