Die deutsche Nationalmannschaft begeistert drei Monate vor dem Start der EM. In Frankreich befeuert sie die Euphorie. Manch einer beginnt mit Träumereien.
Von Benjamin Zurmühl, Lyon
Das Spiel der deutschen Nationalmannschaft gegen Frankreich lässt sich gut an der Stimmung auf den Rängen nacherzählen.
Vor dem Spiel: Die 60.000 Fans im Groupama Stadion von Lyon singen die „Marseillaise“, die Nationalhymne Frankreichs, lautstark mit. Auch eine kleine Panne beirrt sie dabei nicht. Über die Stadionlautsprecher ist kurzzeitig neben der Hymne auch der Beat eines anderen Songs zu hören. Die Fans sind heiß, heiß auf den Klassiker gegen Deutschland. Der Schiedsrichter pfeift an.
Die erste Hälfte: Florian Wirtz trifft nach einem Anspiel von Toni Kroos nach nur sieben Sekunden ins Tor. Sein Schuss ist für Torwart Samba nicht zu halten. Das Stadion verstummt. Es braucht ein paar Momente, um den frühen Schock zu verdauen. Langsam kommt die Stimmung wieder. Der Fanblock hinter dem französischen Tor animiert den Rest des Stadions zum Hüpfen. Nach den ersten Aktionen der „Équipe Tricolore“ wird es wieder lauter. Die Fans singen noch zweimal die Nationalhymne. Halbzeit, leise Pfiffe.
Die zweite Hälfte: Die Stadionregie inklusive Sprecher hat in der Halbzeitpause alles dafür getan, die Anhänger in Blau zu motivieren. 101 Dezibel waren das Ergebnis. Auf die Mannschaft überträgt sich die Energie kaum. Deutschland dominiert das Spiel, lässt Ball und Gegner laufen. Kai Havertz erhöht vier Minuten nach der Pause auf 2:0. Die Stimmung kippt. In der 57. Minute können sich die deutschen Verteidiger den Ball in aller Seelenruhe zupassen. Einige französische Fans pfeifen ihre passiven Spieler aus. Einen großen Effekt hat das nicht. Hier und da wird das Stadion nochmal etwas lauter, wenn Kylian Mbappé den Ball hat, aber das war es auch. Deutschland bringt die Führung souverän über die Zeit. Einen besonderen Moment gibt es aber noch kurz vor dem Abpfiff. Bundestrainer Julian Nagelsmann wechselt Toni Kroos nach einem starken Auftritt aus. Nicht nur der deutsche Gästeblock klatscht, auch viele der französischen Fans würdigen die Leistung des deutschen Rückkehrers mit Applaus. Kurz danach ist Schluss. Wieder Pfiffe, Jubel im Gästeblock.
„Das war schön anzuschauen“
Die Freude der mitgereisten deutschen Fans teilte auch Julian Nagelsmann. „Kompliment an die Mannschaft, das war schön anzuschauen“, lobte der Bundestrainer seine Spieler.
Das war es tatsächlich. Die deutsche Mannschaft zeigte das beste Länderspiel der jüngeren Vergangenheit. Vor allem im Spiel gegen den Ball zeigte die DFB-Elf ein völlig anderes Gesicht als im Herbst. Bei eigenem Ballverlust griff, bis auf die letzten 20 Minuten der ersten Hälfte, ein gut strukturiertes Gegenpressing. Bei gegnerischen Angriffen wurde es nur über die Außen zu Chancen, das defensive Zentrum war dicht. Die Tempodefizite gegen Kylian Mbappé, Ousmane Dembélé und Co. wurden durch cleveres Stellungsspiel ausgeglichen.
Dazu hielt jeder Spieler seine Position. Joshua Kimmich beispielsweise, der wieder in der Abwehr spielte, blieb auf seiner rechten Seite und wanderte nicht andauernd ins Zentrum, wo er sich eigentlich wohler fühlt. Und Antonio Rüdiger, der unter Nagelsmanns Vorgänger Hansi Flick durch teils vogelwilde Ausflüge auffiel, stand da, wo er zu stehen hatte.
Das Prunkstück der deutschen Mannschaft war aber der eigene Ballbesitz. Angeleitet von Chefstratege Toni Kroos ließ die Offensive um Florian Wirtz und Jamal Musiala immer wieder den Ball zirkulieren und die Franzosen ein ums andere Mal ins Leere laufen. Die Tore waren dabei kein Zufallsprodukt, sondern das Ergebnis der Arbeit der Trainingswoche.
Das 1:0, eine von Co-Trainer Mads Buttgereit einstudierte Variante. „Die Standardtrainer hatten jetzt genug Zeit – vier Monate – um sich was auszudenken“, scherzte Toni Kroos im ZDF. Eine Anspielung auf sein patziges Interview nach dem Champions-League-Sieg mit Real Madrid 2022, als er ZDF-Reporter Nils Kaben vorwarf, sich trotz 90 Minuten Zeit keine guten Fragen ausgedacht zu haben.