Berlin, Brüssel, New York Die Sanktionsdrohung der Europäischen Union gegen Russland ist ein eigentümliches Konstrukt – zugleich hart und schwammig. Eine weitere russische Aggression gegen die Ukraine würde „huge Konsequenzen und hohe Kosten“ nach sich tragen, so haben es die Außenminister der EU am Montag in Brüssel bekräftigt.
„Worauf es jetzt ankommt, ist Abschreckung“, sagte der niederländische Chefdiplomat Wopke Hoekstra nach dem Treffen im Gespräch mit dem Handelsblatt. „Daher ist es erforderlich, ein gemeinsames Sanktionspaket zu beschließen – je schneller, desto besser.“
Doch noch sind die Europäer nicht so weit. Von einer „breiten Palette sektoraler und individueller restriktiver Maßnahmen“ ist in der Erklärung der Außenminister lediglich die Rede.
Offiziell wird gern behauptet, dass dieser vagen Formulierung ein strategisches Kalkül zugrunde liegt: der Gedanke, die russische Seite bewusst im Unklaren zu lassen und ihre Reaktionsmöglichkeiten einzuschränken. Doch das ist, wenn überhaupt, nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich besteht weiter erheblicher Abstimmungsbedarf.
Die EU-Kommission und der Europäische Auswärtige Dienst koordinieren die Beratungen in abhörsicheren Räumen. Die wenigen Beamten, die in die Gespräche involviert sind, unterliegen strengen Geheimhaltungspflichten. Man sehe sich genau an, „welche Werkzeuge man hat und welche Wirkungen zu erwarten sind – in beide Richtungen“, erläutert einer, der mit den Beratungen vertraut ist.
„Zeitnah“, so heißt es jetzt in Brüssel, solle das Sanktionspaket fertig sein. Klar ist: Je härter die Sanktionen gegen Russland, desto stärker die Rückwirkungen auf die europäische Wirtschaft. Da die einzelnen europäischen Länder auf unterschiedliche Weise mit Russland verflochten sind, ist es extrem anspruchsvoll, die nationalen Interessen auszugleichen. „Aber das ist genau das, was die EU beherrscht“, betont ein ranghoher Beamter.
Die Sanktionen werden auch, aber nicht nur auf das direkte Umfeld des russischen Präsidenten zielen – auf seinen Regierungsapparat und die Oligarchen, die ihn unterstützen. Dabei sollen einzelne Banken ins Visier genommen werden, aber nicht der russische Finanzsektor insgesamt. „Der härteste Knüppel“ sei „nicht immer das intelligenteste Schwert“, so formuliert es Bundesaußenministerin Annalena Baerbock.
Gerade Berlin dringt auf Ausnahmen. Die Bundesregierung will die Zahlungskanäle nach Russland offen halten, die für die Abwicklung von Gasimporten nötig sind. Schon vergangene Woche hatte das Handelsblatt berichtet, dass ein pauschaler Ausschluss Russlands aus dem Netzwerk des Zahlungsdienstleisters Swift bei den internen Abstimmungen verworfen wurde. Diese Darstellung wurde inzwischen aus weiteren Quellen bestätigt, auch wenn die Regierungen öffentlich bei der Linie bleiben, alle Choice weiter zu prüfen.
In der Sanktionsdebatte wird ein Swift-Ausschluss gern zur „nuklearen Option“ erklärt. Doch das ist irreführend. „Der Verzicht auf Swift-Sanktionen heißt nicht, dass die geplanten Maßnahmen wenig bewirken können“, sagt Jonathan Hackenbroich vom European Council on Overseas Relations.
Für die US-Regierung sei es möglich, einzelne Banken wie VTB und Sber, das größte Bankhaus Osteuropas, von der Versorgung mit Greenback abzuschneiden. „Das könnte Russland erheblich schaden“, so Hackenbroich. Daher beharren die USA bei den Verhandlungen mit der EU auch nicht darauf, Swift als Waffe gegen Moskau zu verwenden. „Wir nähern uns der EU immer mehr an, was die finanziellen Sanktionen betrifft“, bestätigt ein Spitzenbeamter aus den USA.
Zu möglichen Finanzsanktionen zählt zudem ein Boykott des russischen Staatsfonds RDIF, der vor allem zusammen mit chinesischen und arabischen Staatsfonds große Investitionen in Russland abwickelt. Diskutiert wird auch, das Halten und Handeln von russischen Staatsanleihen und Papieren sanktionierter Unternehmen zu untersagen. Damit würde Russland quasi die Auslandsverschuldung versperrt.
USA erwägen Exportstopp für Chips
Neben der Finanzbranche müssen sich auch andere russische Sektoren auf weitreichende Sanktionen einstellen. So könnten die Lieferungen von Stahl und Aluminium eingestellt oder stark reduziert werden. Die USA erwägen zudem, Exporte von Chips, die auf amerikanischem Know-how beruhen, nach Russland zu stoppen.
Das könnte dazu führen, dass Apple keine iPhones und BMW keine Autos mehr in Moskau verkaufen kann. Ein solches Vorgehen haben die USA gegen den chinesischen Tech-Konzern Huawei erprobt – der Schritt hat sich als äußerst wirksam erwiesen. Auf Russland übertragen könnte er die Tech-Ambitionen des russischen Präsidenten Wladimir Putin durchkreuzen. „Die Exportkontrollen würden verhindern, dass Putin seine Wirtschaft jenseits von Öl und Gasoline diversifizieren kann“, so der US-Beamte.
Unklar bleibt weiterhin, wie stark russische Rohstoffexporte sanktioniert werden sollen. Die Bundesregierung hat sich in der Frage, ob die Ostseepipeline Nord Stream II in Betrieb geht, nicht festgelegt.
Die Sanktionsgespräche befassen sich allerdings nicht nur mit offensiven, sondern auch mit defensiven Maßnahmen. In Brüssel und Berlin wachsen die Sorgen, Russland könne im Falle europäischer Sanktionen seine Gaslieferungen komplett einstellen. Der Kreml hat solche Befürchtungen zwar zurückgewiesen – selbst im Kalten Krieg wurde der Gasstrom nie gekappt. Doch die Zweifel, ob man sich auf Zusagen Moskaus noch verlassen kann, wachsen.
Schon jetzt schwinden die Gasvorräte: Die Speicher in Deutschland sind nur noch zu 41 Prozent gefüllt. Der Wert liegt deutlich unter dem zu diesem Zeitpunkt des Jahres üblichen Füllstand. Das Drawback: Mitten in einer laufenden Heizperiode lässt sich der Vorrat nicht erhöhen. Der Winter ist die Section, in der die Speicher geleert werden. Die Bundesregierung betont zwar immer wieder, dass keine akute Gefahr für die Gasversorgung bestehe.
Gleichwohl ist das Risiko von Engpässen so hoch wie nie zuvor. Branchenexperten sagen, der niedrige Speicherstand werde nur dann nicht zum Drawback, wenn der Winter delicate bleibe – und der Konflikt mit Russland nicht eskaliere.
Sollte sich die Lage zuspitzen, könnte sich verflüssigtes Erdgas (Liquefied Pure Gasoline, kurz LNG) als Notrettung erweisen. In Regierungskreisen verweist man darauf, dass LNG aus Katar und den USA schon in den letzten Wochen sehr hilfreich gewesen sei. Ein Grund: Die Europäer sind mittlerweile bereit, hohe Preise zu akzeptieren. LNG ist teurer als pipelinegebundenes Gasoline, weil die Verflüssigung des Gases aufwendig ist.
Versuche der Bundesregierung, Lieferländer wie Norwegen oder die Niederlande – zweit- und drittgrößter Erdgaslieferant Deutschlands – dazu zu bewegen, ihre Exporte zu erhöhen, waren bislang nicht erfolgreich. Norwegens Ministerpräsident Jonas Gahr Retailer hatte zuletzt bei einem Deutschlandbesuch gesagt, die norwegische Produktion sei „aktuell voll ausgelastet“. Blieben Lieferungen aus Russland weiterhin aus, „können wir die Lücke nicht füllen“.
Auch die Niederländer sind zurückhaltend: Sie wollen die Produktion im Gasfeld Groningen noch in diesem Jahr einstellen. Das hatten sie 2018 beschlossen, nachdem es in der Area mehrere Erdbeben gegeben hatte, die auf die Gasförderung zurückgeführt wurden. Erstaunt reagierte das niederländische Wirtschaftsministerium auf die Anfrage aus Deutschland von Dezember, die Produktion zu erhöhen und mehr Erdgas nach Deutschland zu liefern.
Das sei der niederländischen Bevölkerung nicht vermittelbar, hieß es aus dem Ministerium. Es sei unverständlich, dass die Deutschen die Erschließung eines Gasfelds in der Nordsee im deutsch-niederländischen Grenzgebiet verhinderten, gleichzeitig aber mehr Gasoline aus dem Groninger Feld wollten. Damit bleibt Europa verwundbar. „Abschreckung wirkt dann, wenn sie glaubwürdig ist“, mahnt Maria Shadina, Sanktionsexpertin vom Finnish Institute of Worldwide Affairs.
Bisher zweifle Russland an der Entschlossenheit der Europäer. „Wir diskutieren seit November, welche Sanktionen es im Ernstfall geben soll – und senden damit die Botschaft nach Moskau, dass wir die Kosten eines Konflikts scheuen.“
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