Die Schuldenrüge der Kommission conflict am Montag Thema beim Treffen der Euro-Finanzminister in Brüssel. Größeren Widerstand leistete die italienische Regierung nicht. Schließlich fallen die Formulierungen äußerst moderat aus. Einen strikten Sparkurs fordert Brüssel nicht, vielmehr, so schreibt die Kommission, wolle sie Italien dazu „einladen“, den Anstieg der laufenden Ausgaben zu begrenzen.
Es ist eine Auseinandersetzung mit Samthandschuhen – und doch ist sie von großer Bedeutung. Denn es geht um die Frage, wann und wie die Euro-Staaten den finanzpolitischen Ausnahmezustand verlassen und zu einer geregelten Haushaltsführung zurückkehren sollen. „Wir können die Konsolidierung nicht ewig vertagen, irgendwann müssen die Regierungen damit anfangen“, mahnt Guntram Wolff, Direktor des Wirtschaftsinstituts Bruegel.
Auch im EU-Parlament wächst die Beunruhigung. „Italien bereitet mit seinem hohen Schuldenstand Sorge“, sagt CSU-Finanzpolitiker Markus Ferber. Zumal die Unterstützung der Europäischen Zentralbank „mittelfristig“ ausfallen werde.
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Seit Jahren hilft die EZB mit dem Kauf von Staatsanleihen dabei, das Zinsniveau im Euro-Raum zu drücken. Gerade südeuropäische Länder profitieren davon. Doch die steigende Inflation könnte die Notenbank schon bald zu einer Kurskorrektur zwingen – und die Regierung in Rom den Launen der Kapitalmärkte überlassen. „Wenn die Investoren das Vertrauen verlieren, wird es für Italien unbezahlbar“, warnt Ferber.
Italien trägt derzeit quick ein Viertel der Schuldenlast in der Euro-Zone. Ende des Jahres könnte sich der Schuldenberg auf 2,7 Billionen Euro auftürmen – ein neuer Rekord. Damit ist das Land ein systemisches Risiko für die Euro-Zone, oder im Jargon der Finanzkrise: „too massive to fail“.
Premier Mario Draghi hat zwar immer wieder betont, dass er die Verbindlichkeiten abbauen will. Aber auch, dass dies für ihn nur über einen Weg funktioniert. „Aus dieser hohen Verschuldungssituation werden wir, aber auch die Franzosen, die Spanier, alle Europäer, nur durch höheres Wachstum herauskommen“, erklärte Draghi schon vor Monaten.
Auch seine Forderung, die Schuldenregeln der EU zu reformieren, platzierte er zuletzt immer öfter. Diese schreiben eine maximale Staatsverschuldung von 60 Prozent der nationalen Wirtschaftskraft vor und begrenzen das zulässige Haushaltsdefizit auf drei Prozent.
Staatsverschuldung im Euro-Zonen-Schnitt bei 100 Prozent der Wirtschaftskraft
Die EU-Kommission hat Beratungen für eine Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts angestoßen. Im kommenden Jahr will Währungskommissar Paolo Gentiloni, von Ende 2016 bis Mitte 2018 selbst italienischer Premier, seine Vorschläge präsentieren. In der Pandemie ist die Staatsverschuldung im Euro-Zonen-Schnitt auf 100 Prozent der Wirtschaftskraft gestiegen.
Nach den derzeitigen Regeln müsste Italien so hohe Überschüsse erwirtschaften, dass das Land innerhalb von 20 Jahren wieder die 60-Prozent-Marke erreicht. Dies würde nach Einschätzung von Ökonomen derart herbe Haushaltskürzungen verlangen, dass Italien und ähnlich verschuldeten Ländern ein schwerer Konjunktureinbruch drohte – und der Schuldenstand gemessen an der nationalen Wirtschaftskraft sogar steigen würde.
Der 750 Milliarden Euro umfassende Wiederaufbaufonds der EU ist eigens dafür aufgelegt worden, die Euro-Staaten vor einer selbstzerstörerischen Sparpolitik zu bewahren. Allein Italien kann mit 191 Milliarden Euro aus Brüssel rechnen, knapp ein Drittel davon sind Zuschüsse, die nicht zurückgezahlt werden müssen. Diese Gelegenheit sollte Rom nutzen, um die nationalen Ausgaben zu begrenzen, sagt Ökonom Wolff. „Sonst wird das Defizit zu hoch und die später erforderliche Anpassung zu hart.“
Zusätzliche Unsicherheit schürt Omikron, die neue, offenbar hochansteckende Variante des Coronavirus. „Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Schutz der bisherigen Impfungen gering ist und neue Lockdowns erforderlich werden“, argumentiert Wolff. In diesem Fall müssten die Regierungen die Wirtschaft mit neuen Hilfsprogrammen stützen. Auch deshalb sei es klug, sich finanziellen Spielraum zu bewahren.
Der Internationale Währungsfonds (IWF) kommt zu einer ähnlichen Einschätzung. IWF-Chefin Kristalina Georgiewa nahm am Brüsseler Treffen der Euro-Gruppe teil und präsentierte die Analyse ihrer Ökonomen. „Glaubwürdige mittelfristige Konsolidierungspläne sollten jetzt angekündigt werden“, fordert der IWF. Georgiewa hatte schon vor ein paar Tagen davor gewarnt, dass Omikron die Wachstumsaussichten eintrübt. „Eine neue Variante, die sich sehr schnell verbreiten könnte, kann das Vertrauen beeinträchtigen“, so die IWF-Direktorin.
Regierung will Wachstum nicht abwürgen
Gerade für Italien wäre ein Wiederaufflammen der Pandemie dramatisch. Das Land wurde von der Krise besonders hart getroffen. 2020 brach die Wirtschaftsleistung um knapp neun Prozent ein. Gerade schien es, als würde Italien wieder Tritt fassen. Die Wirtschaft entwickelte sich so dynamisch wie lange nicht mehr: Um mehr als sechs Prozent soll sie im Jahr 2021 wachsen – 1,5 Prozentpunkte besser als noch am Jahresanfang prognostiziert und weitaus stärker als viele andere Industrienationen auf der Welt.
Das Niveau von 2019 wird die italienische Wirtschaft schon im ersten Halbjahr des kommenden Jahres hinter sich lassen, für 2022 wird das BIP-Wachstum auf 4,6 Prozent geschätzt. Die Regierung will dieses Wachstum auf keinen Fall abwürgen – und weiter Schulden aufnehmen. Das Haushaltsdefizit soll 2022 bei 5,6 Prozent der Wirtschaftsleistung liegen, weit über den Maastricht-Kriterien. Von den 30 Milliarden Euro im neuen Haushaltsgesetz sind allein zwölf Milliarden für Steuersenkungen vorgesehen.
Über eine Steuerreform sollen vor allem Familien mit geringem Einkommen profitieren. Aber auch Rentner müssen künftig weniger Steuern zahlen. Selbst Gutverdiener werden laut Entwurf, der bis Ende des Jahres durchs Parlament muss, weniger zur Kasse gebeten.
Bei solch ausgabenfreudigen Plänen kommen Zweifel auf, ob Italien ernsthaft das Ziel verfolgt, die strukturelle Verschuldung anzupacken. Schon heute liegt sie bei 155,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). In der Euro-Zone stehen nur die Griechen noch schlechter da. Blickt man in die Haushaltsplanung der kommenden Jahre, schrumpft dieser Wert nur langsam: Finanzminister Daniele Franco plant noch im Jahr 2024 mit einer Verschuldung von 146,1 Prozent des BIP. Vor Corona lag dieser Wert bei 134,8 Prozent.
Immerhin ist der Schuldendienst zuletzt durch das niedrige Zinsniveau gesunken. Lagen die gewichteten Durchschnittskosten der Verbindlichkeiten im Jahr 2012 noch bei vier Prozent, sind sie nun auf geschätzt zwei Prozent gefallen. Derzeit sind italienische Staatsanleihen bei zehn Jahren Laufzeit mit 0,9 Prozent verzinst – so niedrig wie schon lange nicht mehr. Und auch dank der steigenden Inflation, die im November mit 3,8 Prozent so hoch lag wie zuletzt im Jahr 2013, schmilzt Italiens Schuldenberg etwas ab.
Unternehmen kritisieren Haushaltsplanung
Dennoch kritisiert auch der Industrieverband Confindustria die Haushaltsplanung: Sie sei „kein wesentlicher Schritt in Richtung Modernisierung des Landes“. Für die Unternehmen finde sich „nichts“ im Haushaltsplan, klagte Confindustria-Präsident Carlo Bonomi im Interview mit der Zeitung „Corriere della Sera“. „Im Gegenteil, es gibt eine Reihe von Punkten, die das Wachstum der Firmen untergraben.“
Ähnlich äußert sich der Verband API, der kleine und mittelständische Unternehmen vertritt: „Unsere Unternehmen sind diejenigen, die innovativ sind“, erklärt API-Präsident Paolo Galassi. „Aber sie müssen stärker unterstützt werden.“ Bei grüner Innovation beispielsweise, einem Herzstück des EU-Wiederaufbaufonds, sieht er „noch kein echtes Projekt“ der Regierung.
Für den italienischen Ökonomen Lorenzo Codogno ist ebenfalls „keine Haushaltskonsolidierung in Sicht“. Das Land habe tiefe strukturelle Probleme, die von Draghis Regierung auf den Weg gebrachte Reformen und erhöhte Investitionen reichten nicht aus, um die Aussichten nachhaltig zu ändern.
Codogno ist sich sicher: „Diese Regierung müsste mindestens fünf Jahre an der Macht bleiben, um sicherzustellen, dass Reformen nicht nur verabschiedet, sondern auch umgesetzt werden.“ Doch das ist angesichts der chronischen Instabilität des italienischen Regierungssystems nicht sonderlich wahrscheinlich.
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