Berlin Die Disziplin der Wirtschaftswissenschaften in Deutschland hat zwei Probleme. Die Szene ist bis heute eine Männerdomäne. Lehr- und Forschungsaufträge, die an Frauen vergeben werden, sind eine Seltenheit. Und aus der Riege der Wirtschaftswissenschaftler driften vereinzelt Personen an den politisch extremen Rand ab.
Der Anteil weiblicher Volkswirtschaftsprofessoren beträgt bloß rund ein Fünftel. Im FAZ-Ökonomenranking kommen unter den 100 in den Medien meistzitierten Wirtschaftswissenschaftlern bloß vier Frauen vor.
Das Downside mit extremen Positionen beschäftigt die Fachwelt seit der Gründung der AfD, an der einst Ökonomen beteiligt waren. Und auch aktuell gibt es angesichts der Coronapandemie Ärger. So steht der Hannoveraner Wirtschaftsprofessor Stefan Homburg der Corona-Querdenkerszene nahe.
Auf Twitter nannte Homburg den Coronaerreger zuletzt einen „08/15-Virus“, der „überhaupt nicht gefährlich ist“. Mund-Nasen-Schutz bezeichnet er als „Sklaven-Masken, mit denen die Bevölkerung psychisch niedergehalten werden soll“.
Der deutschen Ökonomie machen diese Probleme seit geraumer Zeit zu schaffen. Das Picture des Fachbereichs leidet darunter – und verstärkt die ohnehin vorhandenen Nachwuchsprobleme. Deutschland ist für seine wirtschaftswissenschaftliche Szene worldwide anerkannt und bekannt. Doch dieser Ruf steht auf dem Spiel.
Belästigung und Benachteiligung werden verboten
Der Vorstand der führenden Ökonomen-Vereinigung, des Vereins für Socialpolitik (VfS), will das nicht weiter hinnehmen. 1873 gegründet, sind im VfS aktuell 4000 Wirtschaftswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sowie institutionelle Accomplice wie die Bundesbank, Bundesfinanz-, Bundeswirtschafts- und Bundesarbeitsministerium sowie alle großen Wirtschaftsinstitute zusammengeschlossen.
Eine Arbeitsgruppe hat dem bestehenden Ethikkodex des Vereins ein neues Kapital verpasst. Doch darum ist ein hitziger Streit entbrannt.
Bislang beschäftigte sich der Kodex ausschließlich mit inhaltlichen Vorgaben für das wissenschaftliche Arbeiten. Neu ist nun ein Abschnitt zur „beruflichen Praxis“. Darin festgeschrieben ist unter anderem, dass Mitglieder des VfS sich verpflichten, keine Personen zu belästigen, kein „feindseliges Umfeld“ zu schaffen oder andere nicht zu benachteiligen.
Der Verein will sich so von lauten, demokratiefeindlichen Ökonomen abgrenzen. Und Frauen soll die Furcht vor schlechten Umgangsformen genommen werden. Immer wieder ist zu hören, dass Ökonominnen eine wissenschaftliche Karriere meiden, weil sie befürchten, von männlichen Kollegen ausgenutzt oder nicht ernst genommen zu werden.
„Durch den neuen Ethikkodex verpflichten wir uns auf ein inklusives und sachlich-professionelles Umfeld, das auch für Ökonominnen zunehmend attraktiv sein wird“, sagt der VfS-Vorsitzende Georg Weizsäcker.
Mitgliederversammlung beschließt neuen Kodex
Schon im Vorfeld conflict über den neuen Ethikkodex heftig gestritten worden. Am Mittwoch beschäftigte sich nun die Mitgliederversammlung des Vereins mit dem Thema. Rund vier anstatt der angesetzten zwei Stunden wurde über den Kodex diskutiert. Mehrfach hat man die Formulierungen angepasst.
Am Ende nahmen bloß noch rund 60 Vereinsmitglieder an der Abstimmung teil, wie Teilnehmerkreise berichten. Sie beschlossen den neuen Kodex, der dem Handelsblatt vorliegt.
Doch die Kritiker halten den Beschluss für deadly. Weil die neuen Passagen auch nach ihrer Anpassung noch immer sehr offen gehalten seien, fürchten sie, dass der Kodex künftig missbraucht werden könnte.
Stellt es eine Abwertung demografischer Gruppen dar, wenn ein Forschungsprojekt zu dem Ergebnis kommt, dass ostdeutsche Beschäftigte im Durchschnitt noch immer unproduktiver sind als westdeutsche, so wie das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) vor einiger Zeit feststellte?
Oder hatte der Düsseldorfer Professor Justus Haucap ein „feindseliges Umfeld“ geschaffen, als er den Wirtschaftsweisen Achim Truger bei seiner Berufung in den Sachverständigenrat als „wissenschaftliches Leichtgewicht“ titulierte?
„Gängelung der Wissenschaftsfreiheit“
Michael Hüther etwa, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), fürchtet eine „Gängelung der Wissenschaftsfreiheit, wenn vermeintliche Mehrheitsmeinungen den Raum für abweichende Positionen verengen“.
„Die erhebliche Ausweitung des Regelungsbereichs des Ethikkodexes öffnet Tür und Tor, um die Wissenschafts- und Meinungsfreiheit einzuschränken“, poltert Xenia Matschke, Professorin an der Universität Trier.
Der VfS-Vorstand kann diese Pauschalkritik nicht nachvollziehen. „Wir haben uns auf eine Formulierung einigen können, die den freien Austausch stützt, nicht behindert“, sagt der Vereinsvorsitzende Weizsäcker. Doch die Kritiker halten den VfS nicht für die Establishment, die diese Dinge vorzuschreiben habe. „Der Verein verkennt seine Rolle“, meint IW-Chef Hüther.
Eine Annäherung der Lager bleibt weit entfernt. Da hilft es auch nicht, dass der neue Ethikkodex voraussichtlich nichts weiter als eine Selbstverpflichtung sein wird. Hinter vorgehaltener Hand berichten manche Mitglieder, dass sie aufgrund des Beschlusses zum Ethikkodex planen, den Verein zu verlassen.
Mehr: Ökonomen fordern Regierung zu raschem Handeln bei Klimaschutz und Pandemie auf