Düsseldorf Die Verbraucherzentrale Hessen bringt eine Musterfeststellungsklage gegen den Energiediscounter Stromio auf den Weg. Das Unternehmen aus Kaarst hatte im Dezember Hunderttausenden Kunden rückwirkend und ohne Vorwarnung gekündigt.
„Jedes Unternehmen trägt ein wirtschaftliches Risiko. Wenn man sich da verzockt, ist dass das Drawback von Stromio und nicht das seiner Kunden“, sagt Philipp Wendt, Vorstand der Verbraucherzentrale Hessen im Gespräch mit dem Handelsblatt. Der Stromanbieter habe rechtswidrig gehandelt. Deswegen sei er sich „sehr sicher“, vor Gericht erfolgreich zu sein.
Wendt rechnet mit einer erheblichen Zahl von Betroffenen und mindestens einer vierstelligen Zahl an Kunden, die sich an der Musterklage beteiligen. „Jeder Stromio-Kunde kann sich bei uns melden“, so Wendt.
Die Musterfeststellungsklage ist die schärfste Maßnahme, die Verbraucherzentralen gegen Konzerne vorbringen können. Den größten Erfolg erzielten sie dabei im Prozess gegen den Autohersteller VW. Im Zuge des Abgasskandals erstritten die Verbraucherschützer für mehr als 400.000 Autofahrer eine Gesamtsumme von 750 Millionen Euro, die als Schadensersatz zugesprochen wurde.
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Im Fall von Stromio rechnet die Verbraucherzentrale Hessen mit einer Schadensersatzsumme zwischen mehreren Hundert bis 2000 Euro professional Kunde. „Die Betroffenen hatten Anspruch auf Vertragserfüllung und sind stattdessen in die deutlich teurere Ersatzversorgung gefallen, und genau daraus ergibt sich die Schadenshöhe“, erklärt Wendt.
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Kunden berichten den Verbraucherschützern teilweise von einer Verdreifachung der Stromkosten innerhalb eines Monats. „Wir kennen Insolvenzen von Stromanbietern. Aber dass einfach die Lieferung gestoppt und der Vertrag gekündigt wird, das kennen wir nicht“, sagt Wendt.
Statt Insolvenz anzumelden, hatten mehrere Stromdiscounter angesichts der Rekordeinkaufspreise an den Energiebörsen vielen Kunden entweder von heute auf morgen die Lieferung eingestellt oder Preise und Abschlagszahlungen teilweise um über 500 Prozent erhöht.
Strom wird zu Rekordpreisen weiterverkauft
Tausende von Kunden haben sich bereits an Anwaltskanzleien gewandt, um Sammelklagen gegen Stromio anzustrengen, wie das Handelsblatt berichtete. Am vergangenen Dienstag hatte außerdem die Bundesnetzagentur entschieden, dass die horrenden Abschlagszahlungen der Rheinischen Elektrizitäts- und Gasversorgungs GmbH nicht mit dem Energierecht vereinbar seien. „Das Risiko steigender Beschaffungspreise darf nicht durch einseitige Erhöhung der Abschläge auf Haushaltskunden abgewälzt werden“, sagte Jochen Homann, Präsident der Bundesnetzagentur.
Das Unternehmen, besser bekannt unter der Marke Immergrün, wollte sich auf Anfrage dazu bislang nicht äußern. Sollten sich Kunden auch in Zukunft mit ungerechtfertigten Abschlagszahlungen konfrontiert sehen, droht Immergrün nun ein Zwangsgeld von 100.000 Euro.
Obwohl die Kölner Firma nur einer von vielen Anbietern ist, die aktuell in der Kritik stehen, laufen bei der Bundesnetzagentur aktuell jedoch keine weiteren Verfahren. Das teilte ein Sprecher der Behörde auf Anfrage des Handelsblatts mit. „Aber wir beobachten den Markt natürlich auch weiterhin und können Aufsichtsverfahren einleiten, wenn wir systematische Missstände vermuten“.
Dass es zu weiteren Verfahren kommt, wollte er nicht ausschließen. Mit ihrer Entscheidung habe die Bonner Behörde aber immerhin ein klares Sign gesetzt, ab wann die Grenze als überschritten erachtet werde, heißt es aus Branchenkreisen.
Immergrün warfare einer der ersten Anbieter, die im Oktober vergangenen Jahres Tausenden von Kunden gebietsweise ihre Stromverträge kündigten. Als Begründung dienten – ähnlich wie bei Stromio, Wunderwerk und anderen Discountern – die hohen Beschaffungspreise an den Energiebörsen.
Anders als Anbieter wie Enyway, Lition und Neckermann Strom kündigten viele jedoch keine Insolvenz an, sondern setzten lieber ihre Kunden vor die Tür und verkauften den bereits eingekauften Strom zu Rekordpreisen weiter, heißt es aus Branchenkreisen. Die Kunden landeten dagegen bei den Grundversorgern, wo sie teilweise das Drei- bis Vierfache zahlen mussten.
„Das Vorgehen von Stromio halten wir für nicht tragbar und rechtswidrig“, sagte Volker Bloch, zuständig für das Endkundengeschäft bei EnBW. Der baden-württembergische Energiekonzern hatte mehr als 40.000 Stromio-Kunden aufgefangen. Weil der zusätzlich benötigte Strom kurzfristig zu hohen Preisen eingekauft werden musste, wollen die Karlsruher den Discounter nun auf Aufwendungsersatz verklagen.
Stromio wälze Folgekosten einer Risikostrategie auf die Kundinnen und Kunden sowie auf andere Marktteilnehmer ab. Klagen gegen weitere Anbieter seien ebenfalls nicht ausgeschlossen, teilte ein Sprecher des Unternehmens mit.
Auch Energieversorger Eon kritisierte das Vorgehen der Billiganbieter scharf: „Es ist unsolidarisch, wenn Discounter mit diesem Marktmechanismus die Kunden pushen und sich dann der Verantwortung entziehen“, sagte ein Sprecher des Unternehmens auf Anfrage. Das müsse Konsequenzen haben. Eine Klage plant der Essener Versorger aktuell zwar nicht, behält sich rechtliche Schritte jedoch ausdrücklich vor.
Discounter haben es schwerer
Schon vor den Rekordstrompreisen hatte das Geschäftsgebaren von Billigstromanbietern immer wieder für Schlagzeilen gesorgt. Teldafax, Flexstrom oder zuletzt die Bayerische Energieversorgungsgesellschaft (BEV): Der deutsche Strommarkt wird regelmäßig durch spektakuläre Pleiten erschüttert, die Hunderttausende Kunden treffen. Trotzdem ziehen Billiganbieter mit nicht nachhaltigen, teilweise unseriösen Geschäftsmodellen immer wieder Kunden an.
Bleiben die Strompreise weiterhin auf dem hohen Niveau, könnten es die Discounter mit ihrem Geschäftsmodell jetzt aber erst einmal schwer haben. Wo große Anbieter sich mit langfristigen Verträgen von ein bis zwei Jahren häufig gegen Preisspitzen absichern, haben Billigstromanbieter wie Immergrün nun ein massives Drawback. Sie kaufen den Strom oft kurzfristig am Markt und müssen dafür jetzt Rekordpreise zahlen.
An ihre Kunden können sie die aber nur begrenzt weitergeben, da in Deutschland meist vertraglich festgelegte Preise für Verbraucher gelten. Mit außerordentlichen Preiserhöhungen oder horrenden Abschlagszahlungen dürfte das nach dem Urteil der Bundesnetzagentur nun auch nicht mehr so leicht zu kompensieren sein.
Für die betroffenen Stromio-Kunden ist das nur ein kleiner Trost. Die Verbraucherzentrale Hessen wird ihre Musterfeststellungsklage in Kürze einreichen. Vier bis sechs Wochen später können sich Verbraucher dann in ein entsprechendes Klageregister eintragen.
„Wenn es schnell geht, rechnen wir noch in diesem Jahr mit einem Urteil“, glaubt dagegen VZ-Hessen-Chef Wendt. Bis dahin muss Stromio allerdings auch zahlungsfähig bleiben. Sonst gehen die geprellten Kunden trotz erfolgreicher Klage leer aus – wie zuletzt bei der großen Pleite der Bayerischen Energieversorgungsgesellschaft.
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