Vor Russlands Annexion der Krim plante die Bundesregierung eine Zusammenarbeit mit der russischen Armee. Diese sollte offenbar weiter gehen, als bislang bekannt.
Vor mehr als zehn Jahren war geplant, was heute undenkbar erscheint: Die damalige Bundesregierung unter der CDU wollte ein hochmodernes Gefechtsübungszentrum des Rüstungskonzerns Rheinmetall an die russische Armee liefern. Im Jahr 2011 unterschrieb sie den Vertrag mit den russischen Amtskollegen. In Zusammenarbeit mit dem russischen Staatskonzern „Oboronservice AG“ sollte das Zentrum in Mulino errichtet werden und 2014 einsatzbereit sein. Der Ort liegt in der Oblast Nischni Nowgorod. Kurz vor der Fertigstellung des Gefechtsübungszentrums durchkreuzte Russlands völkerrechtswidrige Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim jedoch die Pläne.
Der neue Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) stoppte damals die Lieferung aller weiteren Bauteile an Russland. Das Gefechtsübungszentrum aber wurde, wenn auch ohne die fehlenden Bauteile aus Deutschland, nach dem Exportstopp fertiggestellt – und zwar von „Oboronservice AG“, dem damaligen russischen Partner Rheinmetalls. Danach hielten russische Truppen im Beisein von Russlands Präsident Wladimir Putin die Militärübung „Sapad 2021“ in Mulino ab. Sie soll Militärexperten zufolge die Generalprobe für die Invasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 gewesen sein.
Pläne der Bundesregierung gingen wohl noch viel weiter
Das alles ist öffentlich. Doch wie nun bekannt wird, hatte die Bundesregierung vor der Krim-Annexion offenbar eine noch viel engere militärische Zusammenarbeit mit Russland angestrebt. Das sollen Dokumente, die dem Sender WDR Investigativ vorliegen, beweisen, berichtet die Tagesschau. Demnach ging aus Schriftsätzen Rheinmetalls hervor, dass es bei den Plänen der Bundesregierung nicht nur um das schon genehmigte Übungszentrum in Mulino ging, sondern um weitere bis zu acht Ausbildungsanlagen in einem Gesamtwert von einer Milliarde Euro.
Rheinmetall klagte damals in einem Eilverfahren gegen den Stopp der Lieferung an Russland, scheiterte jedoch vor Gericht. Die Dokumente, die WDR Investigativ vorliegen, sollen Teil der bislang unter Verschluss gehaltenen Prozessakte sein. Wie die Tagesschau unter Berufung auf den Konzern berichtet, ruhe das Verfahren derzeit.
De Maizière sprach von „riesigem Potential für die Kooperation“
Auf mehrfache Nachfrage von WDR Investigativ habe ein Sprecher von Rheinmetall die Angaben in den Prozessunterlagen bestätigt. Diese seien jedoch nicht vertraglich festgeschrieben worden, sondern beruhten allein auf den „seinerzeitigen planerischen Überlegungen in Abstimmung mit der Bundesregierung“. Diese legte dem Dokument des Konzerns zufolge Eckdaten des Projektes bei einer dreitägigen Sitzung der „Deutsch-Russischen-Rüstungskommission“ im März 2009 fest – „maßgeblich unter Beteiligung des Verteidigungsministeriums“.
Dieses stand damals unter Franz-Josef Jung (CDU), später saß er im Aufsichtsrat von Rheinmetall. Doch auch sein Nachfolger Thomas de Maizière (CDU) trieb das Vorhaben bei einem Besuch in Moskau 2011 voran und sprach von einem „riesigen Potential für die Kooperation zwischen Russland und Deutschland“. Nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine distanzierte er sich von dem Vorhaben, er sei „sehr skeptisch“ gewesen, so de Maizière. Auf Anfrage der Tagesschau wollte er sich zu dem Bericht nicht erneut äußern.
Bundeswehr wies russische Soldaten ein
Wenige Jahre nach seinem Besuch in Moskau sollen im Jahr 2013 dann auch russische Offiziere zur Einweisung nach Deutschland gekommen sein, berichtet die Tagesschau unter Berufung auf die Prozessdokumente des Rüstungskonzerns. Im Gegenzug habe die Bundeswehr mehrfach Soldaten für einige Wochen nach Mulino geschickt. Dort sollten russische Soldaten vor Ort in die neue Technik eingewiesen werden.
Der damalige Heeresinspekteur Bruno Kasdorf bestätigt die Angaben gegenüber der Tagesschau. Laut ihm solle für das Jahr 2014 auch eine Militärübung mit der russischen Armee geplant worden sein. Auch diese fand nach Russlands völkerrechtswidriger Annexion der Krim jedoch nicht statt. „Im Rückblick kann man natürlich sagen: Wir hätten den Georgienkrieg (Anm. d. Red.: auch Kaukasuskrieg genannt) 2008 als Warnung nehmen müssen“, sagt Kasdorf nun der Tagesschau. „Wir wollten Russland aber die Hand ausstrecken und in eine europäische Friedensordnung einbinden“, so Kasdorf.
Während die Politik die Zusammenarbeit mit Russland nach der Annexion der Krim einstellte, sah Rheinmetall in dem ursprünglichen Vorhaben jedoch weiterhin ein lukratives Geschäft. Vor Gericht erklärte der Konzern dem Bericht zufolge, es könne völlig „ausgeschlossen werden, dass eine (…) am Frieden zwischen den Völkern ausgerichtete Außenpolitik (…) mit der Ausfuhr des Gefechtsübungszentrums gefährdet sein könnte.“ Und weiter: „Gefahren gehen davon nicht aus.“ – ein Irrtum, wie Russlands Invasion in die Ukraine, erprobt in Mulino, wenige Jahre später gezeigt hat.