Berlin, Kiew, München Außenministerin Annalena Baerbock hat vor ihrer Abreise zu Antrittsbesuchen in Kiew und Moskau für eine diplomatische Lösung der Krise zwischen Russland und der Ukraine geworben. „Wir sind bereit zu einem ernsthaften Dialog über gegenseitige Vereinbarungen und Schritte, die allen in Europa mehr Sicherheit bringen, auch Russland“, erklärte sie am Montag in Berlin.
Man sei aber „entschlossen zu reagieren, wenn Russland stattdessen den Weg der Eskalation geht“. Es könnten keine Abstriche bei Grundprinzipien wie der territorialen Unverletzlichkeit, der freien Bündniswahl und dem Verzicht auf Gewaltandrohung gemacht werden.
Westliche Staaten sind alarmiert wegen des russischen Truppenaufmarschs in der Nähe der Ukraine. Russland sieht sich dagegen durch die Nato bedroht, fordert deshalb ein Ende der Nato-Osterweiterung und besonders den Verzicht auf die Aufnahme der Ukraine.
Baerbock wollte sich direkt nach ihrer Ankunft in Kiew mit deutschen Vertreterinnen und Vertretern der dortigen Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) treffen. Später sollte es Beratungen mit Präsident Wolodimir Selenski und ihrem Amtskollegen Dmytro Kuleba geben. Am Dienstag ist in Moskau ein Gespräch mit Außenminister Sergej Lawrow geplant.
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Sie werde ihren Gesprächspartnern genau zuhören, „aber auch in aller Klarheit die Haltung erläutern, die wir in der EU, in den G7 und im transatlantischen Bündnis geschlossen vertreten“, erklärte Baerbock angesichts der bislang ergebnislosen Verhandlungen in verschiedenen internationalen Formaten.
„Ich will vor Ort ausloten, ob es die Bereitschaft gibt, auf diplomatischem Weg zu Lösungen zu kommen – vor allem den Normandie-Prozess wieder mit Leben zu füllen und endlich bei der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen voranzukommen.“
In der Vierer-Gruppe des Normandie-Codecs versuchen Frankreich, Deutschland, Russland und die Ukraine den seit quick acht Jahren andauernden Konflikt zu lösen. Die Ukraine und Russland werfen sich gegenseitig vor, den Minsker Friedensplan immer wieder zu verletzen. Zuletzt conflict der Konflikt nach dem russischen Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze eskaliert.
Das dürften die zentralen Themen Baerbocks in Kiew sein:
Waffenlieferungen an die Ukraine
Der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, hatte Baerbock kurz vor ihrem Besuch eindringlich aufgefordert, Kiew die Lieferung von Waffen zur Landesverteidigung zuzusagen. Die Zurückhaltung oder Ablehnung von Rüstungshilfe sei „sehr frustrierend und bitter“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur.
Die Ukraine fordert seit Jahren Waffenlieferungen von Deutschland, um sich gegen einen möglichen russischen Angriff verteidigen zu können – bisher ohne Erfolg. Der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck hatte im vergangenen Mai im Wahlkampf bei einem Besuch in der Ukraine gesagt, man könne dem Land „Defensivwaffen“ kaum verwehren.
Konflikt in der Ostukraine
Teile der ostukrainischen Regionen Luhansk und Donezk werden seit 2014 von prorussischen Separatisten kontrolliert. Trotz eines in Minsk (Belarus) unter deutsch-französischer Vermittlung ausgehandelten Friedensplans kommt der Konflikt nicht zur Ruhe. Nach UN-Schätzungen sind bisher mehr als 14.000 Menschen in dem Gebiet gestorben.
Russland und die Ukraine werfen sich immer wieder gegenseitig Verstöße gegen den Friedensplan vor. Längst haben sich in den selbst ernannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk mit Hilfe Moskaus eigenen Strukturen gebildet. Zudem hat Russland dort Hunderttausende Pässe ausgeteilt – und Ukrainer damit eingebürgert.
Die umstrittene Ostsee-Pipeline Nord Stream 2
In der Ukraine dürfte besonders Baerbocks Skepsis gegenüber der Ostseepipeline Nord Stream 2 willkommen sein. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sieht sie dagegen als privatwirtschaftliches Projekt und hat den Genehmigungsprozess als rein unpolitisch bezeichnet.
Die fertige, aber noch nicht für den Betrieb freigegebene Leitung soll künftig Gasoline von Russland nach Deutschland pumpen – in Umgehung der Ukraine, die dadurch als lange wichtigstes Transitland weiter an Bedeutung und vor allem wichtige Einnahmen verliert. Russland betont, dass der Weg durch neue Gasleitung sicherer, kürzer und billiger sei.
Gastransitnetz
Die Ukraine fürchtet, dass ihr lange für die Energiesicherheit in Europa elementares Gastransitnetz in der Bedeutungslosigkeit versinken könnte. Schon in den vergangenen Jahren reduzierte der russische Gasriese Gazprom Durchleitungsmengen drastisch.
Der Chef des ukrainischen Energiekonzerns Naftogaz, Jurij Witrenko, fürchtet, dass nach Inbetriebnahme der neuen Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 kein russisches Gasoline mehr durch sein Land geleitet wird. „Wir sind zu 100 Prozent sicher, dass Nord Stream 2 den alleinigen Zweck hat, die Ukraine beim Gastransit auszuschalten“, sagte er der „Süddeutschen Zeitung“ (Montag).
Mit Blick auf den russischen Truppenaufmarsch an der Grenze sagte er, Kremlchef Wladimir Putin bereite eine militärische Invasion vor. „Und er will sicherstellen, dass dadurch keine negativen Folgen für den Handel mit Europa entstehen.“
Der Staatskonzern Naftogaz betreibt das 38.000 Kilometer lange Gasnetz durch die Ukraine, das bisher auch russisches Gasoline nach Mitteleuropa transportiert. Noch bis Ende 2024 verdient die finanziell klamme Ex-Sowjetrepublik jährlich umgerechnet über eine Milliarde Euro am Transit.
Moskaus Ziel sei es, diesen Transit auszuschalten, sagte Witrenko. Daran änderten auch Zusagen nichts, bestehende Transitverträge zu verlängern. Im Falle einer russischen Invasion werde es keine Leitungen mehr durch die Ukraine geben, sagte er. „Die ersten Bomben werden den Pipelines gelten.“
Zwar hat die Bundesregierung Hilfen zugesichert bei der künftigen Nutzung des Netzes und etwa auch eine Speisung mit Wasserstoff ins Gespräch gebracht. Die Ukraine aber ist da skeptisch. Wurden 1998 noch 141 Milliarden Kubikmeter über die Ukraine nach Europa transportiert, waren es 2021 nur 41,6 Milliarden Kubikmeter, der niedrigste Wert seit der Unabhängigkeit vor 30 Jahren.
Lage der Medien und Umgang mit der Opposition
Wegen der Aufmerksamkeit für den Ukraine-Konflikt übersieht der stets auch um die freiheitlichen Grundrechte besorgte Westen bisweilen, dass Selenski innenpolitisch zusätzliche Fronten eröffnet.
Mit Blick auf seine angestrebte Wiederwahl im Frühjahr 2024 ließ er zum Unmut Moskaus fünf der russlandfreundlichen Fernsehsender, die der Opposition nahestehen, schließen und zwei Nachrichtenwebseiten sperren.
Einer der Hauptakteure der moskauorientierten Kräfte, der Parlamentsabgeordnete Viktor Medwedtschuk, ein Vertrauter des russischen Präsidenten Wladimir Putin, wurde mittels eines Verfahrens wegen Hochverrats kaltgestellt und sitzt seit Monaten in Hausarrest.
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