Düsseldorf Die harmloseren Fälle fangen so an: „Sorry, überhaupt nicht geschäftlich … aber wunderschön bist du“, heißt es in der Nachricht an eine Recruiterin, die gerne anonym bleiben möchte. Ein anderer Nutzer bekommt das hier zugeschickt: „Dein Hirn wurde wahrscheinlich bereits amputiert … Deine Scheiss Firme werde ich allerorten diskreditieren“. Wieder von woanders stammt: „Hey Süße, magst du dich nicht mit mir vernetzen?“ Diese kurzen Sätze sind allesamt Privatnachrichten – versendet über LinkedIn.
17 Millionen Mitglieder zählt das berufliche Netzwerk im deutschsprachigen Raum, alle sechs Monate kommen rund eine Million neue Nutzer dazu. In Zeiten der Pandemie ist die Plattform, die seit 2016 zu Microsoft gehört, für viele Enterprise-Professionals zur Ersatzkaffeeküche geworden.
Mal geht es um die neuesten Coronamaßnahmen am Arbeitsplatz. Auch ein neuer Job lässt sich über LinkedIn suchen und finden. Oder das Staff zum Wochenstart mit einem Posting motivieren. So oder so ähnlich kennen und nutzen die meisten Menschen LinkedIn.
Doch das Karrierenetzwerk hat auch Schattenseiten: Anmachsprüche, Hass und Beleidigungen gehören auf der Plattform inzwischen zum Alltag – und nehmen in der Pandemie zu. Hätte man Kusssmileys, Kosenamen oder Abendeinladungen in eine Hotelsuite bislang eher auf Datingportalen wie Tinder vermutet, wird auch LinkedIn immer mehr zur Plattform für fehlgeleitete Anmachversuche.
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Auch von Hassrede berichten mehrere Mitglieder des Netzwerks dem Handelsblatt. Nicht alle wollten mit Klarnamen in diesem Textual content auftauchen.
„Ich sag einfach mal Hallo und schaue, was passiert“
Eine, die öffentlich spricht, ist Sarah Stein. Sie leitet beim Südwestrundfunk den Bereich Suchmaschinenoptimierung. Vor Kurzem erhielt Stein through LinkedIn diese Nachricht von einem Nutzer: „Moin Sarah, normalerweise mache ich das nicht mit dem kommentarlosen Adden, aber du hast wirkliche mal ne außergewöhnliche Ausstrahlung hier. (…) da hab ich mir gedacht, ich sag einfach mal Hallo und schau, was passiert.“
Stein veröffentlicht daraufhin die Nachricht auf der Plattform und stellt klar: „Es kotzt uns Frauen an.“ Innerhalb weniger Tage reagieren über 3000 Person, quick 500 kommentieren. Vor allem Berufseinsteigerinnen danken ihr. „Die haben so etwas auch oft bekommen und konnten nicht einschätzen, ob das zum Enterprise dazugehört“, erzählt Stein. „Jetzt wissen sie, dass man das nicht hinnehmen muss und sich dagegen wehren darf.“
In eine ähnliche Richtung geht der Hashtag #linkedinisnotadatingplattform, mit dem die Recruiterin Celine Melo Cristino auf dem Netzwerk kürzlich eine Debatte anstieß. Immer wieder erhielt die 27-Jährige in den vergangenen Monaten Nachrichten, in denen ihre „tolle Figur“ oder ihr „umwerfendes Lächeln“ gelobt wurden. Auch bearbeitete Fotos von ihr mit einem Strauß Rosen in der Hand fand Cristino schon in ihrem virtuellen Posteingang auf LinkedIn.
Um eine Grenze zu ziehen, setzte sie den Hashtag in ihre Profilbeschreibung. Andere Nutzerinnen solidarisierten sich und verwenden seitdem ebenfalls das Schlagwort, um auf sexuelle Belästigung auf LinkedIn aufmerksam zu machen. „Ich möchte keine Anmachsprüche erhalten“, stellt Cristino klar. Bisher scheint ihr Plan aufzugehen. Die Anzüglichkeiten seien weniger geworden, seit sie den Hashtag nutze, berichtet die Personalerin.
Als Karriere- und Debattenplattform genießt LinkedIn hierzulande hohes Ansehen. Deutschlands Wirtschaftselite lobt die gehobene Diskussionskultur auf der Plattform. „Ich bin sehr dankbar für meine LinkedIn-Neighborhood und den oftmals wertvollen Enter, den ich in den Kommentaren bekomme“, erklärt etwa Starinvestor Frank Thelen dem Handelsblatt. Auch CEOs wie Oliver Bäte oder Tim Höttges posten regelmäßig halb non-public, halb geschäftliche Inhalte, um digital im Gespräch zu bleiben.
157.000 gelöschte Belästigungsbeiträge in sechs Monaten
Noch nie battle die Interaktion auf LinkedIn höher als in den vergangenen Monaten. Allerdings sind der Plattform zuletzt mehr Inhalte aufgefallen, die gegen die offiziellen Richtlinien und Nutzungsvereinbarungen verstoßen, wie der firmeneigene Transparenzbericht zeigt. Danach wurden in den ersten sechs Monaten 2020 weltweit rund 17.000 Beiträge wegen Belästigung und 2588 Beiträge mit herabwürdigenden Inhalten entfernt.
In der zweiten Jahreshälfte waren es dann mehr als neun Mal so viele Belästigungsfälle (157.108) und fünf Mal so viele Hatespeech-Postings (13.815). Auch die Zahl der Falschinformationen schoss in die Höhe: von knapp 23.000 in der ersten Jahreshälfte 2020 auf über 110.000 Beiträge in der zweiten Hälfte. Die Zahlen für das aktuelle Jahr veröffentlicht LinkedIn im Januar.
„Wir haben dedizierte regionale Groups – darunter auch deutschsprachige – und starke technische Maßnahmen, um Inhalte zu identifizieren, die gegen unsere Nutzungsbedingungen und unsere Neighborhood-Richtlinien verstoßen“, erklärt die Pressestelle von LinkedIn Deutschland. Dem Unternehmen sei es wichtig, dass Gespräche auf der Plattform stets „konstruktiv und respektvoll bleiben und niemals schädlich sind“. Die meisten Nutzer würden „ihre Meinung, ihre Erfahrungen und ihre Ideen (…) in der Regel in einer sehr konstruktiven Kind“ teilen.
Dass so manche Debatte in dem sozialen Netzwerk dennoch abdriftet, hängt für den Sozialunternehmer und Aktivisten Shai Hoffmann auch mit der Pandemie zusammen. Vor einigen Wochen rief der Influencer angesichts steigender Inzidenzzahlen in einem LinkedIn-Publish zur Impfung gegen das Coronavirus auf. „Daraufhin brach eine Welle der Entrüstung und des Hasses über mich ein“, erzählt der ehemalige Schauspieler mit israelischen Wurzeln. „Von Holocaustvergleichen bis hin zu den schlimmsten Dingen, die man mir an den Hals wünschte, battle eigentlich alles dabei.“
„Der Ton ist auf jeden Fall rauer geworden“, bestätigt auch Unternehmerin Tijen Onaran, mit mehr als 80.000 Followern eine der wichtigsten Stimmen auf der Plattform zum Thema Vielfalt. Bei grenzüberschreitenden Nachrichten fällt der 36-Jährigen auf: Männer würden tendenziell eher mit Hass zu ihrer Individual überschüttet, Frauen eher mit sexualisierten Kommentaren.
Und: Seit der Pandemie werde politischer diskutiert. So polarisierten Themen wie Corona, aber auch Diversität die Nutzerschaft deutlich mehr als etwa die neuesten Tendencies in der Arbeitswelt. Das führe dazu, dass auch Onaran in letzter Zeit mehr Beleidigungen und Hass auf der Plattform erlebt habe. Um „psychological match zu bleiben“, blockiere sie regelmäßig Menschen, die diese persönliche Grenze überschreiten, sagt Onaran.
Fragwürdige Inhalte dürfen auf Karrierenetzwerken länger stehen bleiben
Doch das ist bisweilen leichter gesagt als getan: Zwar bietet LinkedIn die Möglichkeit, Nachrichten oder Beiträge zu melden. Nutzer kritisieren jedoch, dass der prüfende Algorithmus beleidigende oder belästigende Inhalte nicht immer richtig erkenne. Hinzukommt, dass es oft lange dauert, bis entsprechende Beiträge wirklich gelöscht werden. Was auch daran liegen magazine, dass LinkedIn nicht in den Anwendungsbereich des sogenannten Netzwerkdurchsetzungsgesetzes fällt.
Dieses verpflichtet Anbieter großer sozialer Netzwerke, „offensichtlich strafbare Inhalte innerhalb von 24 Stunden nach Eingang der Beschwerde zu löschen oder zu sperren“. Berufliche Netzwerke sind jedoch davon ausgenommen, da hier laut Gesetzesbegründung nur „spezifische Themen“ verbreitet werden und nicht beliebige Inhalte, wie etwa auf Fb oder Twitter. Gemeldete Inhalte auf Karrierenetzwerken können somit länger on-line bleiben als auf anderen Social-Media-Kanälen. LinkedIn versichert dagegen: „Wenn wir Inhalte oder Verhaltensweisen sehen, die gegen unsere Richtlinien verstoßen, ergreifen wir schnelle Maßnahmen, um sie zu entfernen.“
In Deutschland gibt es neben LinkedIn noch Xing als weiteres großes Karrierenetzwerk. Obwohl beide Plattformen ähnliche Zielgruppen haben, finden Hassrede und sexuelle Belästigung auf Xing jedoch kaum statt. Zumindest berichtet keine der betroffenen Personen von ähnlichen Anfeindungen auf der Konkurrenzplattform. Auch Selbsthilfeorganisationen messen deutlich weniger Fälle von Hassnachrichten und Sexismus auf Xing im Vergleich zu LinkedIn.
„Auf Xing werden derzeit noch wenige jobfremde Inhalte diskutiert“, erklärt Josephine Ballon, Leiterin der Rechtsabteilung von Hate Support, einer gemeinnützigen Organisation, die Opfer von On-line-Hass berät und unterstützt. „Auf LinkedIn dagegen kommen immer mehr gesellschaftspolitische Themen zur Sprache, man ist aktiver auf der Plattform unterwegs und sucht den Austausch.“
Normalerweise würde Ballon als Rechtsanwältin stets raten, nicht zu viele persönliche Informationen zu veröffentlichen. Doch genau das sei auf Karrierenetzwerken schwierig. Schließlich besteht ein Reiz der Plattformen darin, zu zeigen, wer man ist und was man beruflich erreicht hat.
Leonhardt Träumer hat selbst die Erfahrung gemacht, dass es nichts bringt, Beiträge einfach zu melden und dann abzuwarten. „Die Inhalte bleiben viel zu lange öffentlich stehen, weil die Prozesse dahinter zu langsam sind – egal bei welchem Netzwerk“, erklärt er. 2019 gründete er deshalb die Organisation „Hassmelden“. Er und seine Teammitglieder prüfen täglich grenzüberschreitende Nachrichten auf strafrechtliche Relevanz und reichen stellvertretend Strafanzeigen bei den Behörden ein.
Allein im November 2021 gingen insgesamt 40.000 gemeldete Beiträge bei Träumers Staff ein. 1600 davon kamen von LinkedIn, 89 von Xing. Rund die Hälfte wird im Durchschnitt bei der zuständigen Polizeidienststelle angezeigt. In wie vielen Fällen es zu einer Verurteilung kommt, ist nicht belegt. Noch machten die gemeldeten Beiträge von LinkedIn nur einen kleinen Teil seiner Arbeit aus, erklärt Träumer. „Aber wenn man bedenkt, dass wir vor einem Jahr noch keine einzige Meldung von LinkedIn bekommen haben, ist das schon eine enorme Steigerung.“
Influencer Hoffmann hat bisher noch keine der erhaltenen Beleidigungen angezeigt. Stattdessen meldete er Beiträge, „die krass persönlich wurden“. Das Blockieren habe bei ihm intestine funktioniert. Außerdem habe er aus seiner Neighborhood „enorme Zustimmung und Rückendeckung bekommen“, erzählt er. Und wer kein großes Netzwerk im Rücken hat? Den ermutigt LinkedIn, entsprechende Mitglieder, Inhalte oder Verhaltensweisen zu melden. „Wir nehmen Meldungen unserer Mitglieder sehr ernst und prüfen jeden Fall einzeln“, verspricht der Konzern.
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