Die ZDF-Serie „Uncivilized“ lenkt den Blick darauf, wie Anschläge und Kriege Alltagsrassismus befeuern – mit so authentischen wie unbequemen Geschichten.
Wer zählen wollte, wie oft in der Auftaktfolge „Hanau“ die Worte Bruder, Alter und Digga fallen, müsste wohl eine Strichliste anlegen und diese im Stakkato-Rhythmus befüllen. Der Film zeigt mit größter Authentizität und Street Credibility, wie eine deutsch-türkische Jungs-Gang in Köln die bestandene Mechanikerausbildung eines ihrer Mitglieder feiern will – aber leider nirgendwo reinkommt. Erst werden Can (Mücahit Altun) und seine Kumpels vom Türsteher eines Nachtclubs abgewiesen („Du kannst paar Freunde mitbringen, aber nicht die andere Rheinseite.“), dann müssen sie feststellen, dass neuerdings auch vor ihrer Shishabar mürrische Security-Leute stehen.
Der Titel lässt sich dabei gleich zweifach herleiten: Nach 9/11 sprach der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder von einem „Anschlag auf die zivilisierte Welt“. Und nachdem 2022 die ersten Ukrainer vor dem Krieg in ihrem Land nach Deutschland geflohen waren, war von „zivilisierten“ Geflüchteten die Rede – in Abgrenzung zu Geflüchteten aus anderen Weltregionen. Im Netz entstand daraufhin der Solidaritäts-Hashtag #Uncivilized.
Der Hauptautor und Regisseur Bilal Bahadir verzichtet in den fiktionalen, zumeist rund halbstündigen Episoden auf allzu krawallige Plots. Vielmehr vermittelt er seine unbequemen Einblicke in den deutschen Alltagsrassismus niederschwellig, aber umso effektiver. In „Nine Eleven“ etwa muss die kopftuchtragende muslimische Referendarin Sahra (Seyneb Saleh) damit umgehen, dass sich ein Schüler in ihrem Unterricht nicht an einer Schweigeminute für die New Yorker Terroropfer beteiligen möchte – und bekommt bei der Gelegenheit zu spüren, welche Vorbehalte und welches Misstrauen die eigenen Kolleginnen gegen sie hegen.
Hat die Episode „Charlie Hebdo“, in der der angehende Kunststudent Kenan (Aram Arami) auf einer Ausstellung mit seinen Freunden einen Culture Clash erlebt, ähnlich wie „Hanau“ auch humoristische Anteile, so tut die Stuttgarter Geschichte einfach nur weh: Da gerät Leyla (Yasemin Cetinkaya), die von ihrem Bruder zu einem Bewerbungsgespräch gefahren wird, in eine Polizeikontrolle, die die Beamten absichtsvoll zur ultimativen Demütigung eskalieren lassen.
Eine Sonderstellung nimmt die Folge „Ukraine“ ein. Sie ist die einzige, die aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft erzählt wird: Die blonde Deutsche Karla (Franziska Machens) möchte gern eine vor Putins Angriffskrieg geflüchtete Frau aufnehmen, hat aber versäumt, dies klar zu kommunizieren. Als ihr stattdessen ein offenbar von Narben entstellter syrischer Mann zugewiesen wird, reagiert sie ungehalten.
Im Telefonat mit ihrem türkischstämmigen Ehemann (Sahin Eryilmaz) beschwert sie sich über die „woke Tussi“ von der Behörde und sagt, was sie wirklich denkt: „Ich will einfach morgens in die Küche gehen können im Bademantel, ohne dass da so ’n traumatisierter Araber sitzt, der mich anglotzt.“ Doch das „Umtauschen“ von Geflüchteten erweist sich als schwierig.
Mit ungewöhnlichen Blickwinkeln, Mut zur Ambivalenz und Geschichten, die spürbar auf einem reichen Erfahrungsschatz fußen, hat „Uncivilized“ das Potenzial, seinem Publikum in mancher Hinsicht die Augen zu öffnen. Dass die Episoden überdies nicht als trockene Lehrfilme, sondern wie dem Leben abgeschaute Miniaturen daherkommen, schadet dabei sicher nicht.
Für Zuschauer, die nach mehr theoretischem Überbau verlangen, hat die Redaktion „Das kleine Fernsehspiel“ als Abbinder noch die 15-Minuten-Doku „Ihre Story, meine Realität“ bereitgestellt. Darin referiert u. a. der Sozialwissenschaftler Karim Fereidooni über Rassismuskritik, Diversitätssensibilität und Kulturalisierung.