Historische Wahlschlappe, angeschossene Parteispitze, Zweifel am Kanzler: In der SPD rumort es dieser Tage. Der Bundestagsabgeordnete Joe Weingarten wagt sich nun in die Öffentlichkeit – und drängt auf einen Kurswechsel.
Der SPD droht eine offene Revolte: Obwohl viele mit einer Niederlage bei der Europawahl gerechnet hatten, hat der Absturz auf 13,9 Prozent die Kanzlerpartei erschüttert. Der linke und der rechte Parteiflügel sind in Aufruhr, auch wenn es bisher nur wenige wagen, öffentlich Kritik am Kanzler oder der Parteiführung zu äußern.
Dem rheinland-pfälzischen Bundestagsabgeordneten Joe Weingarten reicht es jetzt. Der SPD-Politiker will sich nicht mehr kritiklos der Parteilinie fügen. Vergangene Woche schrieb der Verteidigungspolitiker einen Brief an die Parteifreunde in seinem Wahlkreis Kreuznach, der schnell als „Brandbrief“ die Runde machte. Ob beim Bürgergeld oder in der Asylpolitik: Weingarten findet, die SPD vertrete nicht mehr die Interessen der Mehrheit – und fordert einen spürbaren Politikwechsel. t-online hat mit ihm über seine Kritik gesprochen.
t-online: Herr Weingarten, hat Sie nach Bekanntwerden Ihres „Brandbriefs“ eigentlich schon SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich angerufen?
Joe Weingarten: Nein. Warum?
Rolf Mützenich soll gerne mal zum Hörer greifen, wenn Abgeordnete aus der Reihe tanzen. Wenn er das bei Ihnen bisher nicht getan hat – deuten Sie das als stille Zustimmung?
Ich habe ein sehr gutes Verhältnis zu Rolf Mützenich, solche Disziplinierungsanrufe kenne ich nicht von ihm. Wir stehen in ständigem Austausch, wenn ihm etwas nicht passt, sagt er mir das direkt. Das ist seine Aufgabe als Fraktionschef: Er hält den Laden zusammen und macht das auch sehr gut.
Sie sind mit dem Brief auf offene Konfrontation mit Ihrer Partei gegangen. Was war Ihre Motivation?
Ich suche keine Konfrontation, sondern will helfen, dass wir aus dem Schlamassel rauskommen. Es muss dringend etwas geschehen. Es war zu wenig, wie die Parteiführung bisher auf das Wahlergebnis reagiert hat. Es reicht nicht, mantraartig dieselben Aussagen zu wiederholen und darauf zu hoffen, dass es schon irgendwie besser wird. Nein, es wird nicht besser, solange wir uns nicht ehrlich mit unseren Fehlern und den Bedürfnissen der Wähler auseinandersetzen. Die Europawahl war ein Weckruf.
Wie waren die Reaktionen Ihrer Parteikollegen auf Ihre öffentliche Intervention?
Ich habe Dutzende SMS und E-Mails bekommen, die waren fast einhellig positiv, und zwar vom linken wie rechten Parteiflügel, auch von Abgeordneten. Ich bin aber nicht so naiv zu glauben, dass es nicht auch Leute gibt, die meine Haltung ablehnen. Von denen hat sich aber niemand bei mir gemeldet.
Wie erklären Sie sich den großen Zuspruch?
Ich glaube, ich habe einen Nerv getroffen. Es hat sich viel Frust über die letzten Monate angestaut. Aber nicht alle trauen sich, offen zu reden. Ich kann das verstehen. Wir dürfen uns jetzt auch nicht öffentlich zerlegen. Personelle Konsequenzen aus dem Wahldebakel halte ich daher für falsch. Wir müssen uns aber inhaltlich in Teilen anders aufstellen.
Weil ich es für richtig halte. Ich bin direkt gewählter Abgeordneter in meinem Wahlkreis Kreuznach und den Menschen verpflichtet, zuzuhören und ihre Anliegen weiterzutragen. Es geht nicht um mich als Person. Ich bin seit 46 Jahren in der SPD und will, dass es für unser Land und unsere Partei erfolgreich weitergeht. Als Sozialdemokratie müssen wir stärker die Menschen und ihre realen Interessen im Blick haben.
Sie meinen, die SPD und ihr Kanzler hatten bisher nicht die realen Interessen der Menschen im Blick?
In Teilen zu wenig. Beispiel Klimaschutz: Ohne Frage ein wichtiges Thema, aber wir sind zu lange einer von den Medien gehypten Minderheit wie „Fridays for Future“ hinterhergelaufen. Was ist mit den vielen anderen Jugendlichen, die bei der Europawahl CDU und AfD gewählt haben? Die haben wir ignoriert, weil wir uns lieber eingeredet haben, dass die Jugend komplett links oder grün tickt. Das war ein Fehler.