Immer mehr Touristen, immer mehr Verbitterung: Während die Besucherzahlen in Istanbul explodieren, kämpft die Bevölkerung mit der galoppierenden Inflation. Der Unmut über die ausländischen Gäste wächst.
Schlemmen, Raki trinken, feiern, das Leben genießen: So schön ist Istanbul in den Werbevideos auf Instagram. Hippe Touristen, die in der Millionenmetropole den Urlaub ihres Lebens verbringen. Für Evrim aus Istanbul ist dieses Leben in weite Ferne gerückt. Angesagte Bars, teure Restaurants oder Shoppingtouren kann sich der 44-Jährige nicht leisten. „Ich kann nicht mehr so oft essen gehen wie früher. Ich bin arm, im ökonomischen und intellektuellen Sinn“, sagt der freiberufliche Videoproduzent. Vor fast jedem Einkauf muss Evrim rechnen – nur um festzustellen, dass er sich seine Stadt nicht mehr leisten kann. Istanbul, sagen viele, ist zum Vergnügungspark für Ausländer geworden.
Im Jahr 2023 war Istanbul die meistbesuchte Stadt der Welt. Mehr als 20 Millionen Touristen reisten laut dem Marktforschungsunternehmen Euromonitor International in die Metropole am Bosporus. Damit ist die Stadt beliebter als London oder Dubai. Allein im Juli kamen 1,87 Millionen Touristen nach Istanbul, ein Zehnjahresrekord, wie die türkische Nachrichtenagentur Anadolu mitteilte. Unter den ausländischen Gästen nehmen Russen den ersten Platz ein. Für sie ist es wegen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine schwierig, in andere Länder wie in die EU-Staaten zu reisen. An zweiter Stelle stehen die Deutschen, gefolgt von Besuchern aus Saudi-Arabien. Auch bei Gästen aus den arabischen Ländern ist die Metropole sehr beliebt.
Die Besucherrekorde sind eigentlich eine gute Nachricht für eine Stadt, für die der Tourismus ein bedeutender Wirtschaftszweig ist. Doch während immer mehr Gäste aus dem Ausland kommen, fühlen sich die Einwohner abgehängt – weil sie sich das Leben in der eigenen Stadt nicht mehr leisten können.
Das kommt nicht überraschend: Der Bosporus, die gastfreundlichen Menschen, die Hagia Sophia, für die inzwischen Eintritt verlangt wird – die Stadt zieht Touristen an wie keine andere. Jedes Jahr kommen zudem Hunderttausende, um sich einer Schönheitsoperation zu unterziehen. Auch als kulinarisches Reiseziel gewinnt Istanbul immer mehr an Bedeutung: Von Straßenküchen bis zur Spitzengastronomie hat die Stadt alles zu bieten. Vor zwei Jahren erschien erstmals ein Michelin-Führer für Istanbul. Unter den gut 50 Empfehlungen finden sich auch 1- und 2-Sterne-Restaurants.
Hinter dem Tourismusboom stehen auch strategische Planungen der Regierung: Sie ließ im Nordwesten der Stadt einen zweiten Flughafen bauen, einen der größten in Europa. Seit 2018 ist er in Betrieb. Vor gut zwei Jahren wurde zudem ein neues Kreuzfahrtterminal im Touristenviertel Karaköy eröffnet, nur wenige Gehminuten vom beliebten Galata-Turm entfernt. 350.000 Gäste und Crewmitglieder kamen hier vergangenes Jahr an. Und mit ihrer Marke „Go Türkiye“ und den Hochglanzvideos wirbt das Tourismusministerium weltweit für Reisen im Land. Auf Facebook folgen dem Account 5,5 Millionen Nutzer.
Das Land leidet seit einigen Jahren unter einer schweren Wirtschaftskrise. Die Verbraucherpreise sind im Vergleich zum Vorjahr um fast 70 Prozent gestiegen, große Teile der Bevölkerung können die Lebenshaltungskosten kaum mehr aus eigenen Mitteln bestreiten. Strom, Lebensmittel, Mieten, alles wird teurer. Einen Rekord erreichte die offizielle Inflation im Oktober 2022, sie betrug mehr als 85 Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland lag die Teuerungsrate damals bei 8,8 Prozent. Im Gegensatz zur Europäischen Zentralbank hielt der türkische Machthaber Recep Tayyip Erdoğan jahrelang an seiner umstrittenen Zinspolitik fest – was die Inflation zusätzlich befeuerte.
In Istanbul wurden die Preise für den öffentlichen Nahverkehr angehoben – teils um 50 Prozent. Nach dem Sieg von Erdogan bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr erhöhte die Regierung Steuern und Abgaben auf Kraftstoffe und den Kauf von Autos und Immobilien. Damit sollte die Inflation bekämpft und Geld für den Wiederaufbau der Erdbebenregion im Osten eingenommen werden. Doch der Mindestlohn, der zuletzt zu Jahresbeginn deutlich angehoben wurde, heizt die Teuerung weiter an.