Droht das Ende der Leistungsgesellschaft? Warum in der Debatte ein Blick auf ihren Anfang helfen kann, erklärt die Historikerin Nina Verheyen.
Leistung ist zu einer Art Kampfbegriff geworden. Die einen glauben, Deutschland habe sie verlernt und stürze deshalb in die Krise. Die anderen plädieren für ein neues Verständnis von Leistung, weil das aktuelle die Menschen krank mache. Die Kölner Historikerin Nina Verheyen hat untersucht, wie unser modernes Leistungsverständnis entstanden ist – und fand dabei heraus, was für ein besseres Verständnis helfen kann.
t-online: Frau Verheyen, weil wir ja über Leistung sprechen wollen: Darf ich fragen, was Sie heute schon geleistet haben?
Nina Verheyen: Kommt darauf an, was Sie unter Leistung verstehen.
Was verstehen Sie darunter?
Mir ist wichtig, dass Leistung immer auch eine Frage der Perspektive ist, zumal man streng genommen nie etwas ganz alleine leistet. Jeder ist dabei von anderen abhängig. Konkret: Ich sitze seit ein paar Stunden am Schreibtisch und schreibe an einem Fachartikel. Aber diese Leistung, wenn man so will, hängt von vielen anderen ab: Angefangen bei meinem Mann, der heute unsere Tochter in die Kita gebracht hat, bis hin zu den Studien von Kolleginnen und Kollegen, die ich für den Text gelesen habe, und die Bibliothek, über die ich diese Artikel bezogen habe. Persönliche Leistung ist also immer das Ergebnis einer Koproduktion.
Sie betonen das, weil Ihnen dieser Gedanke in der aktuellen Leistungsdebatte zu kurz kommt?
Ich betone das, weil daraus eine interessante Frage resultiert: Wieso halten so viele Menschen die Kategorie der persönlichen Leistung im Alltag überhaupt für plausibel? Das untersuche ich in historischer Perspektive, wobei aktuelle öffentliche Leistungsdebatten übrigens erstaunlich geschichtsblind sind.
Was genau meinen Sie damit?
Ich habe zum Beispiel aktuell ein Déjà-vu, wenn es heißt, die junge Generation habe sich vom Leistungsprinzip verabschiedet. Eine in Teilen ähnliche Debatte gab es in den Siebzigerjahren in der Bundesrepublik. Man sorgte sich um die Produktivität des Landes und um die Moral der jungen Generation. Damals war das eine sehr normative Debatte, was auch damit zusammenhing, dass sich Vorstellungen von Leistung veränderten. Die Jüngeren waren nicht einfach weniger an Leistung interessiert, sie hatten vor allem ein anderes Leistungsverständnis. Man wertete die Jungen ab mit dem pauschalen Vorwurf, nicht mehr an Leistung interessiert zu sein.
Video | Denkt die Jugend anders über Leistung? Das sagt eine Job-Anfängerin
Quelle: t-online
Mithilfe eines sehr auf die Erwerbsarbeit und messbare Produktivität bezogenen Leistungsbegriffs?
Genau. Und das zeigt bereits, dass die Kategorie der Leistung sehr unscharf und zugleich sehr vielschichtig ist. Unschärfe und Vielschichtigkeit, das ist geradezu kennzeichnend für den modernen Leistungsbegriff.
Wann und wie ist dieser moderne Leistungsbegriff denn entstanden?
Das lässt sich nicht eindeutig sagen, aber die eben angesprochene Vielschichtigkeit nahm im 19. Jahrhundert zu. Davor sprachen gelehrte Texte selten von der Leistung eines Menschen im Singular, und wenn doch, dann handelte es sich auffällig oft um Rechtsdiskurse: gemeint war etwas, zu dem ein Mensch verpflichtet war. Oder es ging um herausragendes Können. Beide Aspekte sind bis heute zu finden, aber Leistung ist noch viel mehr.
Im historischen Verlauf prägten verschiedene wissenschaftliche Disziplinen das Verständnis von Leistung: Den Wirtschaftswissenschaften ging es unter diesem Stichwort um ökonomische Produktivität, die Physik zeichnete die Vorstellung von Leistung als einer physikalisch exakt messbaren Größe, die auf Krafteinsatz und das daraus resultierende Ergebnis verweist. Das moderne Leistungsverständnis ist überdies vom Gedanken sozialer Gerechtigkeit geprägt: In einer Leistungsgesellschaft soll der Status Einzelner nicht an Dinge gebunden sein, auf die er oder sie keinen Einfluss hat, wie etwa Herkunft, Hautfarbe oder die Religion der Eltern. Status soll stattdessen von eigener Anstrengung und eigenem Können, von Leistung abhängen – am besten einer, die gesellschaftlich nützlich ist. Daraus resultiert der Anspruch auf Gegenleistung, etwa Anerkennung und Geld.