Am 26. Juni 1284 erleiden die Bürger von Hameln einen Schock. Es entsteht eine weltbekannte Sage: die Erzählung vom Rattenfänger von Hameln.
Die Stadtchronik der Weserstadt Hameln beschreibt traumatische Ereignisse für einen Sommertag im Jahr 1284: Ein bunt gekleideter Fremder entführt 130 Kinder aus der Stadt, die auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Doch was ist dran an der Sage vom Rattenfänger?
Die ursprüngliche Sage
Laut der gleichnamigen Sage hatte der Mann, der als Rattenfänger von Hameln bekannt werden würde, kurz vor dem schicksalshaften Tag die Stadt von einer gefährlichen Rattenplage befreit. Die Nager drohten, die Ernte zu vernichten und verbreiteten Krankheiten. Der Fremde hatte seine ganz eigene Methode: Musik. Mit Flötentönen hypnotisierte er die Nagetiere. In langen Reihen folgten sie ihm aus der Stadt bis hinein in die Weser, wo sie ertranken.
Doch als der Mann seinen Lohn einforderte, jagten die Bürger ihn fort. Am 26. Juni 1284 kam er zurück, um sich zu rächen. Er setzte die Flöte an die Lippen und aus den Häusern strömten die Kinder. Er führte sie vor der Stadt in eine Höhle und erst in Siebenbürgen im heutige Rumänien kamen sie wieder heraus.
Faszination Rattenfänger
Die Geschichte übte eine so starke Anziehungskraft auf die Menschen aus, dass sie in Hameln von Generation zu Generation weitererzählt wurde. Im 17. Jahrhundert, ganze 400 Jahre später, machte sich der Jesuit Athanasius Kircher auf den Weg nach Hameln, um Näheres herauszufinden. Seine Faszination über vermutlich magische Flötentöne drückte er 1650 in einem Stück namens „Musurgia universalis“ aus. Mehr als ein Jahrhundert später landete der Erzählstoff bei Jacob Grimm, der gemeinsam mit seinem Bruder Wilhelm schließlich 1816 die Geschichte des Rattenfängers niederschrieb.
Eine wahre Geschichte?
Den Grimm-Brüdern war es nicht wichtig, ob es sich beim Rattenfänger um ein echtes historisches Ereignis gehandelt hatte – die Volkserzählung war auch so spannend genug. Historiker tendieren heutzutage jedoch zu einer anderen Theorie: Bei den entführten Kindern handelte es sich vermutlich eher um junge Erwachsene. Junge Hamelnerinnen und Hamelner, die die Stadt freiwillig verließen; in Richtung einer Zukunft, in der sie sich bessere Chancen erhofften.
Nicht entführt, sondern ausgewandert
Historiker vermuten, dass es sich bei dem Fremden um einen Werber für deutsche Siedler im Osten handelte. Die jungen Hamelner wollten den zu der Zeit vorherrschenden Hungersnöten entfliehen und sich in aussichtsreicheren Gebieten neu ansiedeln.
Das 13. Jahrhundert gilt als die Blütezeit der deutschen Ostkolonisation, und auch wenn Siebenbürgen als Sehnsuchtsort für Menschen aus Hameln und Umgebung nach Meinung von Historikern ausscheiden mag, so finden sich hier dennoch Belege für Neuansiedlungen. In Brandenburg, der Uckermark oder im mährischen Ölmütz (heute Olomouc, Tschechien) wird dies beispielsweise anhand von Orts- oder Familiennamen wie Hammelspring, Hamel, Hämmler oder auch Hamlinus deutlich.
Heutige Relevanz
Die Sage gehört seit 2014 zum immateriellen Kulturerbe der Unesco. Die Stadt Hameln lobt regelmäßig den Rattenfänger-Literaturpreis für fantastische Kinder- und Jugendliteratur aus. So zieht der Rattenfänger mit seiner kuriosen, 750 Jahre alten Sage heute eher die Menschen in die Stadt hinein, als dass er sie hinausführt.
Der Mythos vom Bösewicht, der sich auf Kosten der Menschen rächte, spült heute reichlich Geld in die Kassen der Stadt. Vielleicht kann man es als Schmerzensgeld für einen Schicksalsschlag bezeichnen, der am 26. Juni 1284 das Leben der Hamelner grundlegend veränderte.