Der neuen Ampelkoalition sind gleich mehrere Dinge gelungen, die vor zwölf Monaten noch undenkbar schienen. Dass FDP-Chef Christian Lindner und SPD-Co-Chefin Saskia Esken einmal gemeinsam vor die Kameras treten würden, um den Begin einer gemeinsamen Regierung zu verkünden, gehört in diese Kategorie.
Ebenso der von diesem Bündnis ausgehandelte Koalitionsvertrag, der weitgehend ohne öffentlichen Streit, heimliche Durchstechereien und persönliche Angriffe entstanden ist. Auch dass Olaf Scholz zum Bundeskanzler gewählt wird, hätte vor zwölf Monaten selbst in der SPD kaum jemand zu hoffen gewagt.
Im Wahlkampf noch hatte dieser Olaf Scholz nicht viel mehr Programm, als jene Verlässlichkeit zu verkörpern, die der Union abhandengekommen warfare. Und nun warfare es ihm tatsächlich gelungen, so etwas wie Aufbruchstimmung zu erzeugen: Auch das gehört zu den unwahrscheinlichen Particulars dieser unwahrscheinlichen Koalition.
Doch die Allem-Anfang-wohnt-ein-Zauber-inne-Hermann-Hesse-Seligkeit der vergangenen Wochen ist verflogen. Das Land steckt in der vierten Coronawelle. Wegen Überlastung von Kliniken müssen todkranke Menschen durchs Land geflogen werden, die Aufträge in der Industrie brechen um knapp sieben Prozent ein, und die Wirtschaftshilfen für Unternehmen gehen in die nächste Runde.
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Scholz wird in den nächsten Monaten vor allem daran gemessen werden, ob er das Vertrauen in die Politik wiederherstellen kann, das nach dem chaotischen Krisenmanagement und dem Wortbruch der Politik in Sachen Impfpflicht verloren gegangen ist.
Aus dem Aufbruchskanzler Scholz wird nun erst einmal der Krisenkanzler Scholz. So notwendig das auch ist – es reicht nicht.
Die Ampel hatte sich unter dem Motto „Mehr Fortschritt wagen“ große Ziele gesteckt.
(Foto: imago photographs/Political-Moments)
Das Virus ist zwar das drängendste aktuelle Drawback. Doch gute politische Führung zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht nur vor die kurzen Wellen kommt – sondern auch vor die großen, historischen Wellen.
Ampel muss sich aktiv behaupten
Die größte Gefahr für die neue Bundesregierung besteht darin, von einem Aktionsbündnis zu einem Reaktionsbündnis zu werden, das vor allem damit beschäftigt ist, akute Probleme zu lösen – und dabei die großen Fragen aus dem Blick verliert, in unguter Custom der späten Merkel-Jahre.
Zu diesen offenen Fragen gehört zum Beispiel, wie der grüne Umbau der Wirtschaft konkret finanziert werden soll. Auch die Frage, wie europäische Industrieunternehmen, die hohe CO2-Preise zahlen müssen, weltweit noch mithalten sollen mit denjenigen, die diese Abgabe nicht zahlen.
Ebenfalls ungeklärt: wo das Geld für die vielen Ideen aus dem Koalitionsvertrag herkommen soll. Eine stabile Rente, die Kindergrundsicherung, Investitionen in Klimaschutz, Superabschreibungen: Jedes einzelne dieser Versprechen kostet viele Milliarden, und das ist nur eine Auswahl. „Der Haushalt ist um ein Vielfaches überzeichnet“, heißt es bei den Ampelkoalitionären.
Und nun müssen die Coronahilfen für Unternehmen noch einmal verlängert werden. Der finanzielle Spielraum für den großen Aufbruch schrumpft täglich.
Die neue Regierung setzt zwar auf einen grünen Investitionsboom, weil Unternehmen effizientere Anlagen und Maschinen kaufen. Doch die Rechnung haben sie bislang ohne die Firmen gemacht. Deren Bereitschaft zu investieren nimmt gerade ab, ergab eine aktuelle DIHK-Umfrage.
Die Gründe dafür sind hohe Energiekosten, fehlende Fachkräfte und hohe Unternehmensteuern, all das macht den Standort weniger attraktiv. Ein besorgniserregender Befund. Die neue Bundesregierung muss dem Reflex widerstehen, den Wirtschaftsstandort Deutschland mit immer neuen Regeln zu belasten.
Koalitionsvertrag bietet Chancen
Viele Kapitel im Koalitionsvertrag sind kaum mehr als eine Sammlung zwar richtiger, aber oft zu vager Ideen. Zwar bekennt sich die Ampel dazu, die gesamtstaatlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung bis 2025 auf 3,5 Prozent der Wirtschaftsleistung zu erhöhen. Ansonsten bleibt der beschworene Aufbruch aber im Ungefähren.
Konkret wird die neue Koalition vor allem beim Ausbau des Sozialstaats: Der Mindestlohn soll schnell auf zwölf Euro steigen, Hartz IV wird durch ein Bürgergeld ersetzt. Die absehbare Rentenkrise dagegen wird von den Neukoalitionären schlicht ignoriert. Der neue Kanzler Scholz wird auch daran gemessen, ob seine Bundesregierung Antworten auf diese großen Fragen findet.
Die Voraussetzungen, dass dies gelingt, sind gar nicht einmal schlecht. Denn die drei wichtigsten Akteure stehen im Wettbewerb um etwas Gutes: Wenn sich Robert Habeck tatsächlich für noch Höheres empfehlen will, muss der grüne Vizekanzler zeigen, dass Deutschland seine ehrgeizigen Klimaziele tatsächlich erreichen kann – ohne dass dabei die deutsche Industrie auf der Strecke bleibt.
Christian Lindner wiederum muss eine dieser Zeit angemessene Finanzpolitik entwickeln, die all die notwendigen Investitionen möglich macht – ohne dabei die deutsche Stabilitätskultur aufzugeben.
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Und Olaf Scholz muss all dies zu einer Erzählung des Aufbruchs zusammenführen. Denn nur damit wird es der Regierung gelingen, die vielen Zumutungen zu erklären, die in den nächsten Jahren auf dieses Land zukommen werden.
Erfolgreich wird so ein unwahrscheinliches Bündnis übrigens nur dann, wenn sich die Protagonisten gegenseitig Erfolge gönnen können. Die Koalitionsverhandlungen haben gezeigt, dass die drei neuen Associate dazu durchaus in der Lage sind. Immerhin: Das ist mehr, als man von den letzten Jahren der Großen Koalition behaupten kann.
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