Berlin Volker Wieland sieht düstere Zeiten auf die deutsche Wirtschaft zukommen. „Die Aussichten haben sich drastisch verschlechtert“, sagte er dem Handelsblatt. Wieland ist Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, gemeinhin bekannt als „Wirtschaftsweise“.
Der Rat hat am Mittwoch seine Konjunkturprognose angesichts des Ukrainekriegs deutlich gekappt. Im November 2021 hatten die Experten noch ein Wirtschaftswachstum von 4,6 Prozent für das laufende Jahr prognostiziert, jetzt rechnen sie nur noch mit 1,8 Prozent. „Das liegt quick ausschließlich an den Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine“, erklärte Wieland.
Dennoch würde ein Embargo Deutschland aufgrund der hohen Abhängigkeit von russischen Erdgas-, Erdöl- und Steinkohlelieferungen stark belasten. Es müssten daher „alle Hebel in Bewegung gesetzt werden“, um sich auf ein mögliches Ende der Lieferungen vorzubereiten. Dazu gehörten unter anderem Gaslieferungen aus anderen Quellen und längere Laufzeiten für Atomkraftwerke. „Je schneller das im Laufe dieses Jahres gelingt, umso größer ist unsere Handlungsfähigkeit“, betonte Wieland.
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Lesen Sie hier das vollständige Interview:
Herr Wieland, wie groß wird der Schaden für die deutsche Wirtschaft durch den Ukrainekrieg?
Die Aussichten haben sich drastisch verschlechtert. Im November vergangenen Jahres hatten wir für 2022 ein Wirtschaftswachstum von 4,6 Prozent prognostiziert. Jetzt rechnen wir nur noch mit 1,8 Prozent. Das liegt quick ausschließlich an den Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine, insbesondere an dem starken Anstieg der Energiepreise, der hohen Unsicherheit, die Konsum und Investitionen belastet, und neuen Lieferkettenproblemen.
Könnte der Schock für die Wirtschaft größer als in der Coronakrise werden?
Derzeit erwarten wir das nicht. Der Schaden für die Konjunktur sollte sich vor allem in den kommenden Wochen zeigen. Danach dürften die Menschen wieder mehr Geld ausgeben, wenn die Coronaeinschränkungen weiter fallen, was die Konjunktur stützt. Für 2023 erwarten wir ein Wachstum von 3,6 Prozent. Aber die Unsicherheit ist extrem hoch, und die Abwärtsrisiken dominieren.
Welche genau?
Der Krieg könnte noch lange dauern und sich sogar ausdehnen. Die Energiepreise könnten noch einmal stark ansteigen und länger als erwartet hoch bleiben. Im Gegensatz zur Coronakrise wäre diese Rezession geprägt von sehr hoher Inflation. Da kann weder Geld- noch Fiskalpolitik viel ausgleichen. Die wirtschaftliche Entwicklung würde zwar nicht so tief runtergehen wie im Lockdown im Frühjahr 2020, aber eben auch nicht wieder so schnell hoch wie nach der Öffnung damals.
Wie werden sich die Energiepreise weiterentwickeln?
Die Energiepreise dürften noch über das Jahr 2022 erhöht bleiben, aber 2023 zurückgehen. Das zeigen die Aktivitäten an den Energiebörsen. Aber Szenarien mit deutlich höheren Preisen sind nicht unwahrscheinlich. Und es gibt excessive regionale Unterschiede. Während der Erdgaspreis in den USA kaum gestiegen ist, hat er sich in Europa, das sehr stark von russischen Gaslieferungen per Pipeline abhängt, vervielfacht.
Reichen Entlastungen wie die 300 Euro Energiepreispauschale und weniger Steuern auf Sprit, die die Bundesregierung beschlossen hat?
Ich halte wenig von diesem Entlastungspaket. Der große Energiepreisanstieg macht Deutschland ärmer. Mit diesen Entlastungen wird nur umverteilt, was über Verschuldung und später höhere Steuern oder Inflation wieder finanziert werden muss. Sinnvoller wäre es gewesen, lediglich bedürftige Haushalte gezielt zu unterstützen, wenn sie tatsächlich höhere Heizkosten oder Fahrtkosten schultern müssen.
Ganz andere Sphären bei den Preisen würden bei einem Embargo von russischer Energie erreicht. Könnte die deutsche Wirtschaft das verkraften?
Die deutsche Wirtschaft hat schon viel verkraftet, eingeschlossen sehr schwerer Rezessionen. Und sie würde auch einen Lieferstopp von russischer Seite, auf den man sich dringendst vorbereiten muss, genauso wie ein eigenes Embargo verkraften. Aufgrund der hohen Abhängigkeit von russischen Erdgas-, Erdöl- und Steinkohlelieferungen würde Deutschland aber in eine tiefere Rezession stürzen. Das wäre in jedem Fall eine schwere Belastung. Dazu kommt, dass wir im Gegensatz zu vielen anderen Ländern noch deutlich unter dem Vor-Corona-Krisenstand von 2019 sind.
Wäre der Schaden nicht viel zu hoch, wenn ganze Produktionsketten zusammenbrechen?
Eine Diskussion, die sich nur auf ein Ja oder Nein zu einem Importembargo konzentriert, führt in die Irre. Wir stehen in einem voraussichtlich langen Konflikt mit Russland. Man muss davon ausgehen, dass Wladimir Putin einen Lieferstopp gegen Deutschland einsetzt, wenn es uns am meisten schadet und ihm am meisten nützt. Deshalb müssen jetzt alle Hebel in Bewegung gesetzt werden, um sich darauf vorzubereiten und den möglichen Schaden zu minimieren.
Die da wären?
Gaslieferungen aus anderen Quellen, Befüllung der Gasspeicher, Braun- und Steinkohleverstromung statt Gasoline, längere Laufzeiten für Atomkraftwerke, beschleunigte Umsetzung von erneuerbaren Energien, Einsparmöglichkeiten nutzen, Produktionsketten ändern. Je schneller das im Laufe dieses Jahres gelingt, umso größer ist unsere Handlungsfähigkeit.
Angenommen, es kommt nicht zu diesen Extremfällen, was ist Ihre Erwartung für die Inflationsrate?
Unsere Prognose geht von einem Anstieg von 6,1 Prozent in diesem Jahr und 3,4 Prozent im nächsten Jahr aus. Hier gilt ebenso: Es könnte deutlich schlimmer kommen, wenn die Energie-, Rohstoff- und Nahrungsmittelpreise noch mehr anziehen. Die Erzeugerpreise sind stark gestiegen, und die Unternehmen werden das vielfach an ihre Kunden weiterreichen.
Was muss dagegen getan werden?
Die Inflation ist die Verantwortung der Notenbank. Die Europäische Zentralbank (EZB) muss die Zinsen erhöhen. Da bleibt ihr keine andere Wahl.
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Die Unsicherheit ist aktuell sehr hoch. Warum sollte sich die EZB jetzt schon auf einen Kurs festlegen?
Wir sehen einen enormen Anstieg der Inflationserwartungen. Die realen Zinsen sind dadurch auf ein Niveau von unter minus sechs Prozent gefallen. Banken, die ihr Geld bei der Zentralbank parken, müssen durch den negativen Einlagezins eine Gebühr von 0,5 Prozent zahlen. Wenn die realen Zinsen so viel niedriger sind, kann man doch nicht ernsthaft behaupten, dass es ein Drawback wäre, wenn die EZB ihren negativen Einlagezins abschafft und den Leitzins, zu dem sich Banken bei ihr leihen, ins Constructive anhebt. Das wäre immerhin ein erster Schritt für eine Zinswende. Auch dann wäre die Geldpolitik weiterhin sehr locker und würde die Nachfrage stützen.
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Wird die Inflation langfristig hoch bleiben?
Wir haben nur die Jahre 2022 und 2023 prognostiziert. Ich glaube aber nicht, dass die Inflation 2024 bei uns bereits wieder auf zwei Prozent fallen wird. Markterwartungen liegen bei drei Prozent. Wenn die EZB die Geldpolitik angemessen strafft, kann sie die Inflation längerfristig wieder auf zwei Prozent bringen, aber das wird eine große Herausforderung. Straffen fällt nicht so leicht wie lockern.
Droht ein Szenario wie bei der Stagflation in den 1970er-Jahren?
Weitere starke Öl- und Gaspreisanstiege, ein Lieferstopp oder ein Embargo würden uns in eine Rezession mit noch höheren Inflationsraten werfen, was der State of affairs nach dem Jom-Kippur-Krieg und dem Ölembargo in den 1970er-Jahren ziemlich nahekommen würde.
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