Frankfurt/Düsseldorf Vor dem Gipfel der Nato-Staaten am Donnerstag in Brüssel suchen die USA und ihre europäischen Verbündeten nach Wegen, den Druck auf Russland und Präsident Wladimir Putin im Ukrainekrieg weiter zu erhöhen. So soll US-Präsident Joe Biden bei seiner Europa-Reise einen gemeinsamen Aktionsplan vorstellen, um die europäische Energiesicherheit zu stärken und die Abhängigkeit von russischem Öl und Erdgas zu verringern, sagte Nationale Sicherheitsberater der USA, Jake Sullivan, am Dienstagabend (MEZ).
Russlands Präsident Putin habe bei seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine bislang keines der drei grundlegenden Ziele verwirklichen können, sagte Sullivan. „Erstens sollte die Ukraine unterworfen werden, zweitens sollten die russische Macht und das russische Status gestärkt werden, und drittens sollte der Westen gespalten und geschwächt werden.“ Russland habe „bisher das Gegenteil erreicht“.
Sullivan warnte vor der Europa-Reise Bidens allerdings auch, dass der Krieg noch andauern werde: „Es werden harte Tage auf die Ukraine zukommen, am härtesten für die ukrainischen Truppen an der Entrance und für die Zivilbevölkerung unter russischem Beschuss“, sagte der Sicherheitsberater. „Dieser Krieg wird weder leicht noch schnell enden.“
Die USA und ihre westlichen Verbündeten werden nach Darstellung Sullivans im Rahmen der Gipfeltreffen der Nato und der EU in Brüssel zudem weitere Sanktionen gegen Russland ankündigen. Es gehe um „ein weiteres Sanktionspaket.“ Ein wichtiges Component werde es dabei sein, die bestehenden Strafmaßnahmen so zu verschärfen, dass Moskau eine Umgehung der Sanktionen weiter erschwert werde, sagte Sullivan.
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Wegen des Ukraine-Kriegs bricht Biden an diesem Mittwoch zu einer Reise nach Europa auf. Er wird zunächst am Donnerstag an den Gipfeln der Nato, der EU und der führenden demokratischen Wirtschaftsmächte (G7) in Brüssel teilnehmen. Am Freitag wird Biden nach Warschau weiterreisen. Dort ist für Samstag ein bilaterales Treffen mit dem polnischen Präsidenten Andrzej Duda geplant. Es ist Bidens dritte Europareise seit dem Amtsantritt im Januar 2021.
Diplomatische Bemühungen
Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron sprach zugleich mit Putin über die Bedingungen für einen Waffenstillstand mit der Ukraine. Bei dem etwa einstündigen Telefonat am Dienstag sei es auch um „Sicherheitsvoraussetzungen für substanzielle Themen“ gegangen, teilte der Élyséepalast im Anschluss mit. Konkretere Angaben wurden nicht gemacht.
Der Kreml teilte mit, es sei ein „ausführlicher Meinungsaustausch über die State of affairs um die Ukraine, einschließlich der laufenden Verhandlungen zwischen russischen und ukrainischen Vertretern“ fortgesetzt worden. In vergangenen Telefonaten mit ausländischen Staats- und Regierungschefs hatte Putin immer wieder den Vorwurf erhoben, der Westen ignoriere ukrainische Angriffe auf Zivilisten in der Ostukraine.
Der US-Botschafter in Moskau, John Sullivan, sprach von Anzeichen der russischen Führung, die darauf hindeuteten, „dass die diplomatischen Beziehungen beendet werden könnten“. Die Vereinigten Staaten hätten aber nicht die Absicht, die Botschaft in Moskau zu schließen. US-Präsident Biden hatte Putin zuletzt als „Kriegsverbrecher“ und dann als „mörderischen Diktator“ bezeichnet.
Der in Kiew ausharrende ukrainische Präsident Wolodimir Selenski rief seine Landsleute in einer Videobotschaft dazu auf, die „Eindringlinge“ zu vertreiben. In einer Schalte vor dem italienischen Parlament berichtete Selenski, dass bereits mindestens 117 Kinder getötet worden seien. Zuvor hatte Selenski nach eigenen Angaben mit Papst Franziskus telefoniert und sich für eine Vermittlung des Vatikans ausgesprochen. Der ukrainische Staatschef wird einem Medienbericht zufolge virtuell an dem Nato-Gipfel teilnehmen. Die Einzelheiten müssten noch ausgearbeitet werden, meldete die Nachrichtenagentur Interfax unter Berufung auf einen Pressesprecher.
UN-Generalsekretär Guterres sagte in New York, Russland könne den Krieg nicht gewinnen. „Die Ukraine kann nicht Stadt für Stadt, Straße für Straße, Haus für Haus erobert werden. Früher oder später wird man vom Schlachtfeld zum Friedenstisch wechseln müssen.“ Der Portugiese forderte einen sofortigen Waffenstillstand. Die Fortsetzung des Kriegs sei moralisch inakzeptabel, politisch nicht vertretbar und militärisch unsinnig.
Militärische Lage
Die Kämpfe in der Ukraine gingen derweil unvermindert weiter. Die russischen Truppen haben nach Angaben des ukrainischen Generalstabs und nach Einschätzung aus dem Pentagon zunehmend Probleme mit dem Nachschub. Sie hätten noch Munition und Lebensmittel für höchstens drei Tage, hieß es in Kiew. Ähnlich sei die Lage beim Kraftstoff. Solche Angaben können nicht unabhängig überprüft werden.
Mängel gebe es auch bei der Ausrüstung für die Soldaten, sagte ein hochrangiger Mitarbeiter des US-Verteidigungsministeriums. „Wir haben Hinweise darauf erhalten, dass einige Soldaten tatsächlich Erfrierungen erlitten haben und aus dem Kampf genommen wurden. Sie haben additionally weiterhin Probleme mit der Logistik und der Versorgung.“ Bei der Kommunikation untereinander hätten die russischen Truppen ebenfalls Probleme. Der Pentagon-Vertreter führte die logistischen Schwierigkeiten der russischen Streitkräfte auf die schlechte Planung Russlands und den anhaltenden Widerstand der Ukrainer zurück.
Die ukrainische Seite berichtete am Dienstag von erfolgreichen Angriffen. In der Luft seien etwa binnen 24 Stunden neun russische Ziele getroffen worden. In der besonders umkämpften Stadt Mariupol sollten am Dienstag nach ukrainischen Regierungsangaben drei Fluchtkorridore geöffnet werden – ob das gelang, battle unklar.
Die ukrainische Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk berichtete am Abend, Kämpfer der selbst ernannten Volksrepublik Donezk hätten im zehn Kilometer westlich von Mariupol gelegenen Manhusch mehrere Mitarbeiter des ukrainischen Zivilschutzes als „Geiseln“ genommen. Die Menschen hätten Busse gefahren, in denen Zivilisten aus Mariupol hätten evakuiert werden sollen. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.
Russland berichtete von einem weiteren Vormarsch in den Regionen Donezk und Luhansk. Man habe demnach die Kontrolle über weitere Orte erlangt. Der ukrainische Generalstab widersprach.
Humanitäre State of affairs
Die Zahl Menschen, die wegen des Krieges aus der Ukraine fliehen, nach Angaben der Vereinten Nationen (UN) auf mehr als 3,5 Millionen gestiegen. Die Ukraine hatte vor Beginn des russischen Angriffs mehr als 44 Millionen Einwohner. „Wir müssen davon ausgehen, dass es acht bis zehn Millionen Geflüchtete werden in den nächsten Wochen“, hatte Außenministerin Annalena Baerbock am Montag bei einem EU-Treffen in Brüssel gesagt.
Mehr als zwei Millionen Ukrainer seien ins benachbarte Polen geflohen, erklärte das UN-Flüchtlingswerk UNHCR. Nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) benötigen rund 500.000 von ihnen wegen psychischer Probleme Unterstützung. Bei etwa 30.000 gebe es gravierende Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit, erklärte die WHO-Vertreterin für Polen, Paloma Cuchi.
Die in Polen eintreffenden Flüchtlinge litten zwar unter einer ganzen Reihe von Gesundheitsproblemen wie Durchfall und Dehydrierung. Am meisten Unterstützung werde aber für die Bewältigung von Traumata benötigt.
In Deutschland sind seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine von der Bundespolizei 232.462 Kriegsflüchtlinge registriert worden. Das teilte das Bundesinnenministerium am Dienstag mit.
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Das komplette Fluchtgeschehen bildet diese Zahl allerdings nicht ab. Denn sie beschränkt sich auf Geflüchtete, die von der Bundespolizei angetroffen wurden, etwa an der österreichisch-bayerischen Grenze, an Bahnhöfen oder in Zügen.
Im Regelfall gibt es keine festen Grenzkontrollen an den EU-Binnengrenzen, Ukrainer dürfen zudem ohne Visum einreisen. Die Zahl der tatsächlich Angekommenen ist daher wahrscheinlich deutlich höher. Nicht erfasst wird außerdem, wie viele der Geflüchteten womöglich von Deutschland aus zu Freunden oder Verwandten in anderen Staaten weiterreisen.
Scholz bleibt bei Ablehnung eines Boykotts von russischem Fuel
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bekräftigte zugleich sein Nein zu einem Energie-Embargo gegen Russland. Die Place der Bundesregierung sei unverändert, sagte Scholz nach einem Treffen mit EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola in Berlin. Sanktionen müssten einerseits einen starken Effekt auf Russland haben, andererseits aber auch für die eigene Volkswirtschaft verkraftbar sein. Die Ukraine, aber auch einige EU-Staaten dringen auf einen EU-Importstopp für Energie aus Russland. Sie argumentieren, dass Präsident Putin mit den Einnahmen – jeden Tag mehrere hundert Millionen Euro – seinen Krieg finanziert.
Beim bevorstehenden EU-Gipfel soll ein Solidaritätsfonds für die Ukraine beschlossen werden, um das Land nach Kriegsende wieder aufzubauen. Bundesfinanzminister Christian Lindner forderte im Bundestag zudem einen „internationalen Marshall-Plan für die Ukraine“.
Mit dem Marshall-Plan wurde nach 1945 das vom Zweiten Weltkrieg zerstörte Westeuropa wieder aufgebaut. Die USA gaben dafür Milliardensummen aus.
Lindner brachte am Dienstag den Bundeshaushalt 2022 ein und kündigte zudem einen Ergänzungshaushalt an. Dieser werde nur Ausgaben umfassen, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg stünden, sagte er im Bundestag. Mit dem Ergänzungshaushalt dürften weitere Milliarden an Schulden dazukommen.
Mit Materials von dpa und Reuters.
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