Berlin Vierzehn Tage. So lange hätten die knapp 3500 Menschen ausharren können im „Schutzraum“ im Berliner U-Bahnhof Pankstraße. So lange hätten das Wasser gereicht und die Eintopfkonserven. Zwei Rollen Klopapier und ein Stück Seife hätte jeder für diese Zeit bekommen.
Die Menschen hätten ihre Zeit verbracht in den engen Stockbetten, aufgestellt selbst auf den Bahnsteigen. Der Bereich wäre luft- und strahlungsdicht verschlossen gewesen bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Schutzsuchenden an die Oberfläche zurückgekehrt wären – ohne zu wissen, was sie dort erwartet.
Heute ist dieser Ort mit seinen schweren Schleusentüren ein Relikt aus einer anderen Zeit, als während des Kalten Krieges ein Flächenbombardement oder ein Angriff mit nuklearen Waffen als realistisches Szenario galt. Nutzungsbereit ist die Anlage heute nicht.
Öffentliche Schutzräume gibt es in Deutschland nicht mehr. Viele Bunker sind verkauft worden, zurückgebaut oder dienen als Museen. Dieser hier gehört den Berliner Verkehrsbetrieben. Und doch ist der Besuch hier unten bedrückend aktuell.
High-Jobs des Tages
Jetzt die besten Jobs finden und
per E-Mail benachrichtigt werden.
Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ist vielen bewusst geworden, dass Deutschland auch beim Zivilschutz Nachholbedarf hat. Manche Veränderungen sind zwar auf dem Weg, doch vielen Innenpolitikern reicht das nicht.
„Jahrzehntelang nicht für möglich gehaltene Szenarien sind plötzlich nicht mehr auszuschließen“, sagt zum Beispiel der innenpolitische Sprecher der Bundestags-Unionsfraktion, Alexander Throm. „Die Bundesregierung muss nun schnellstmöglich alle Bereiche des Zivilschutzes der neuen Lage anpassen.“
Aber wie? Wer wissen will, wie es um den Zivilschutz steht, muss zunächst einen wichtigen Unterschied kennen. Der Katastrophenschutz etwa im Fall von Hochwassern oder Pandemien ist Ländersache. Der Schutz der Bevölkerung im Kriegsfall, der Zivilschutz ist dagegen Aufgabe des Bundes.
Wird das Sirenennetz ausgebaut?
Während des Kalten Krieges gab es ein bundesweites Sirenennetz. „Weil man später die Gefahr eines Krieges für gering hielt, wurden die Sirenen an die Länder übergeben. Diese konnten sie entweder abbauen oder weiterbetreiben“, sagt Marianne Suntrup vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK). Im Bundesbesitz befinde sich heute nur noch eine einzige Sirene. „Sie steht im Lobby des Bundesamtes und ist zur Anschauung da.“
Ein erhellender Second conflict für viele der „Warntag“ im Jahr 2020, als mit einem bundesweiten Probealarm für Gefahrenlagen wie Unwetter oder Anschläge geübt werden sollte. Da fiel auf, dass es an vielen Orten Deutschlands, wie etwa in Berlin, keine Sirenen mehr gibt und dass die vorhandenen nicht zentral gesteuert werden können.
Es wurde ein knapp 90 Millionen Euro umfassendes Sirenenförderprogramm aufgesetzt, mit dem der Bund die Länder und Kommunen dabei unterstützt, Sirenen anzuschaffen und aufzubauen. „Diese müssen dann so trendy sein, dass sie an das bundesweite Warnsystem MoWaS angeschlossen werden können und im Ernstfall auch zentral ausgelöst werden können“, sagt Suntrup.
Zwar haben mittlerweile alle Bundesländer Geld aus dem Förderprogramm abgerufen. Doch das Downside ist: Das Geld reicht nicht für ein flächendeckendes Sirenensystem in Deutschland. 5000 Sirenen können laut BBK mit dem Geld gefördert werden.
Auch Berlin will wieder welche bauen lassen. Dem Land stehen aus dem Förderprogramm 4,5 Millionen Euro zur Verfügung. „Voraussichtlich können bis zu 400 Anlagen im Stadtgebiet mit den zur Verfügung stehenden Mitteln eingerichtet werden“, heißt es auf Tagesspiegel-Anfrage aus der Senatsverwaltung für Inneres.
Der CDU-Innenpolitiker Throm fordert von der regierenden Ampel-Koalition, dass sie ausreichend Geld im Haushalt einstellt „für alle Kommunen, die alte Sirenen modernisieren oder neue Sirenen anschaffen wollen“.
Wie funktioniert das Warnsystem?
Zentrale Plattform in Deutschland sowohl für den Katastrophen- als auch für den Zivilschutz ist das System MoWaS. Es vernetzt alle Leitstellen miteinander. Hier sind auch die verschiedenen Warnkanäle angeschlossen: vorhandene Sirenen, Radio- und Fernsehsender, Apps wie die „Notfall-Informations- und Nachrichten-App“ Nina, Anzeigetafeln der Deutschen Bahn. Wenn es etwa einen Großbrand in der Nähe von Berlin gibt und giftige Dämpfe in eine bestimmte Richtung ziehen, kann der Mitarbeiter in der Leitstelle vor Ort die Kanäle auswählen, über die dort gewarnt werden soll.
Beim BBK gibt es zudem eine bundesweite Warnzentrale. Für den Zivilschutz hat diese zwei Verbindungsbeamte bei der Nato, die rund um die Uhr den Luftraum überwachen. Wenn in der Zentrale eine Warnung ausgelöst wird, könnte bundesweit über die vorhandenen Kanäle gewarnt werden.
Demnächst kommt noch ein Kanal dazu: das sogenannte Cell Broadcasting. Die Einführung wurde nach der Hochwasserkatastrophe 2021 beschlossen, als viele Menschen nicht rechtzeitig gewarnt worden waren. Diese Technologie macht es möglich, dass alle Menschen, die sich in einer bestimmten Funkzelle aufhalten, eine Warnung auf ihr Mobiltelefon bekommen – egal, ob sie eine Warnapp installiert haben oder nicht.
„Die Warnung kommt dann als eine Artwork Push-Notification mit Textual content aber auch Ton – selbst wenn das Mobiltelefon auf lautlos gestellt ist“, erklärt Marianne Suntrup vom BBK. Spätestens Anfang 2023 sollen die Mobilfunkanbieter das möglich gemacht haben.
Was wäre überhaupt im Ernstfall zu tun?
1961 empfahl das Bundesamt für den zivilen Bevölkerungsschutz in der Broschüre „Jeder hat eine Likelihood“, man solle sich im Fall einer atomaren Explosion auf den Boden legen und die Aktentasche über den Kopf halten.
Öffentliche Schutzräume wurden seit Mitte der 60er Jahre in Ballungszentren errichtet oder wieder hergerichtet. Darunter waren Hoch- und Tiefbunker ebenso wie Stollenanlagen aus dem zweiten Weltkrieg. Dazu kamen neu gebaute Mehrzweckanlagen – zivile Bauten wie Bahnhöfe oder Parkhäuser, die so ausgestattet waren, dass sie im Ernstfall dem Schutz der Bevölkerung hätten dienen können.
Dazu zählt auch die Anlage im Berliner U-Bahnhof Pankstraße, die man mit dem Verein „Berliner Unterwelten“ besichtigen kann. Teil des Schutzkonzeptes conflict es, dass zwei U-Bahn-Züge in den Bahnhof einfahren sollten, danach hätten zwei Hubschwenktore den Tunnel luftdicht verschlossen. Die Menschen wären über eine Personen-Dosier-Anlage hereingelassen worden. Diese hydraulischen Stahltore hätten sich immer weiter geschlossen, je mehr Menschen in die Anlage gekommen wären – bis zum Erreichen der Kapazitätsgrenze.
Trotz solcher ausgeklügelter Anlagen sagt Jochen Molitor, der zum Zivilschutz während des Kalten Krieges geforscht hat: „Wie man sich im Falle eines Fliegeralarms verhalten sollte, conflict den meisten Menschen nie wirklich klar.“ Zwar habe es hierzulande tausende von Sirenen gegeben, die die Menschen über einen nahenden Angriff informieren konnten.
Genug Schutzräume, die man hätte aufsuchen sollen, habe es auf dem Gebiet der Bundesrepublik jedoch nie gegeben. „Selbst auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges existierten lediglich für etwa drei Prozent der Bevölkerung Schutzraumplätze.“
Dass Deutschland vor dem Hintergrund des bewaffneten Konflikts in der Ukraine einem Luftangriff ausgesetzt sein wird, ist unwahrscheinlich. Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe
Mit dem Ende des Kalten Krieges änderte sich die Sicherheitslage. Zuvor hatte es noch Eskalationsstufen gegeben und Vorwarnzeiten, so dass Zeit conflict, die Schutzräume vorzubereiten und dorthin zu gelangen. Heute gingen Experten von einem Szenario ohne Vorwarnzeit aus, heißt es aus dem BBK. Deshalb könnten Schutzräume keinen ausreichenden Schutz bieten.
2007 wurde die Entscheidung getroffen, die Schutzräume abzuschaffen. „Man ging nach dem Ende des Kalten Krieges davon aus, dass kriegerische Auseinandersetzungen auf Nato-Territorium der Vergangenheit angehören“, sagt Suntrup. Die bestehenden Schutzanlagen werden seitdem nach und nach abgewickelt.
Doch mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine sind die Bunker wieder in den Fokus gerückt. „Dass Deutschland vor dem Hintergrund des bewaffneten Konflikts in der Ukraine einem Luftangriff ausgesetzt sein wird, ist unwahrscheinlich“, ist nun auf der Webseite des BBK zu lesen.
Dennoch gibt die Behörde Tipps: Guten Schutz biete generell die vorhandene Bebauung, sowohl vor „fliegenden Objekten“ als auch vor Kontamination mit chemischen oder nuklearen Stoffen.
„Im Fall eines Angriffs gehen Sie am besten in einen innenliegenden Raum mit möglichst wenigen Außenwänden, Türen und Fenstern: Glasflächen können bei Explosionen durch die Druckwelle zersplittern und Verletzungen verursachen.“ Sei man nicht zu Hause, sondern innerhalb einer Stadt unterwegs, solle man ein Gebäude mit Innenräumen oder unterirdische Gebäudeteile wie U-Bahn-Stationen aufsuchen.
Könnten die Schutzanlagen überhaupt reaktiviert werden?
Aus dem Bundesinnenministerium heißt es, „das aktuelle Rückbaukonzept für Schutzräume“ werde geprüft. Dazu würden Bund und Länder eine vollständige Bestandsaufnahme der vorhandenen Schutzräume vornehmen. Der CDU-Innenpolitiker Throm fordert, es müsse geprüft werden, ob angesichts der Bedrohung die Reaktivierung sinnvoll sei. Es dürfe nichts ausgeschlossen werden.
Aber wäre das überhaupt sinnvoll? Viele Bunker sind technisch veraltet und in keinem guten Zustand. Gegen moderne Waffensysteme oder Atomwaffen könnten sie nichts ausrichten. „Bei ‚gewöhnlichen“ Bomben, einem einstürzenden Haus oder größerem Abstand zum Explosionszentrum können Schutzräume helfen“, sagt Experte Molitor.
Mehr zu Deutschlands Innenpolitik:
Er hält den Ausbau von Luftschutzbunkern aber für eine sehr invasive Maßnahme, die für große Verunsicherung in der Bevölkerung sorgen und auf Ablehnung stoßen würde. „Heutzutage wäre Bunkerbau wohl höchstens in sehr reduzierter Type, etwa dem Ausbau von Kellern, U-Bahn-Stationen, möglich – wenn überhaupt.“ Für wichtiger halte Molitor andere Maßnahmen, die im Ernstfall Hilfe bedeuten könnten: Erste-Hilfe-Kurs oder das Bereithalten von Lebensmitteln für einige Tage.
Auch Innenpolitiker sind unabhängig von der Frage von Sirenen und Bunkern der Meinung, dass der Zivilschutz stärker gefördert werden muss. So fordern die Grünen, das BBK mit deutlich mehr Ressourcen auszustatten.
Der innenpolitische Sprecher Manuel Höferlin fordert, der Zivilschutz müsse modernisiert und besser aufgestellt werden. „Wo es früher zum Beispiel um den ABC-Schutz der Bevölkerung ging, geht es heute – wie man es beim Krieg in der Ukraine beobachten kann – längst schon um den ABCD-Schutz – additionally auch den Schutz von Digitalem.“
Dieser Artikel ist zuerst im Tagesspiegel erschienen.
Mehr: Hilfen für die Wirtschaft, keine Steuererhöhungen – Lindner wirbt für Rekordschulden-Haushalt