Düsseldorf Wenn die Lage nicht so düster wäre, könnte man dieses nun offenbar regelmäßig wiederkehrende Ritual skurril finden: Telefonate mit Putin. In gewisser Regelmäßigkeit scheint sich Russlands Präsident und Kriegsherr Wladimir Putin nun zum Telefonieren bei dem ein oder anderen Regierungschef zu melden.
Die Gespräche haben alle eins gemeinsam: Sie scheinen unglaublich zäh und lang zu dauern und sie bringen, von allem von außen Nachvollziehbaren, nahezu nichts. Außer, dass auch die westliche Öffentlichkeit einen recht plastischen Eindruck in das zunehmend sonderbare Weltbild des Kreml-Herren bekommt. Wie am heutigen Samstag.
Da telefonierte Putin mit dem franco-deutschen Duo aus Staatspräsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz. 75 Minuten dauerte auch das wieder. Eine ziemlich lange Zeit dafür, dass Putin den Informationen aus Elysée-Palast und Kanzleramt zufolge wenig neues mitzuteilen hatte. Er machte weiter die Ukraine für den Konflikt verantwortlich, sei entschlossen, den Krieg fortzuführen.
Scholz und Macron hätten auch nach dem von den ukrainischen Behörden vermissten Bürgermeister von Melitopol gefragt. Die ukrainische Regierung befürchtet, er könne von russischen Soldaten entführt worden sein. Putin habe zugesagt, sich in dieser Angelegenheit zu erkundigen.
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Der Kreml dagegen teilte mit, Putin habe das Telefonat genutzt, um auf Verbrechen der Ukrainer hinzuweisen. Ukrainische Einheiten würden Andersdenkende hinrichten, Geiseln nehmen und Zivilisten als Schutzschilde missbrauchen. „Nationalistische“ Truppen würden Evakuierungsversuche systematisch verhindern und Zivilisten einschüchtern, die fliehen wollen.
Beweise nannte der Kreml dafür nicht. Und der Glaube daran fällt schwer angesichts der Bilder, die auch am Samstag wieder aus der Ukraine kommen. Die humanitäre Lage in der Ukraine verschlechtert sich einem ranghohen Mitarbeiter des Nationalen Verteidigungs-Kontrollzentrums zufolge weiter rapide. In einigen Städten habe dies katastrophale Ausmaße angenommen, zitiert die Agentur Ria einen Sprecher.
Das Drama von Mariupol
Im seit Tagen belagerten ukrainischen Mariupol sind einige Bewohner laut Ärzte ohne Grenzen wegen mangelnder Medikamente gestorben. Ein Mitarbeiter der Hilfsorganisation schilderte in einer Sprachnachricht, dass er Zeuge solcher Todesfälle geworden sei. In Mariupol gebe es eine Menge solcher Fälle. Die Sprachnachricht wurde mit der Nachrichtenagentur AP am Samstag geteilt.
Es gebe auch viele Menschen, die bei Gefechten getötet oder verletzt worden seien und auf dem Boden lägen, berichtete der Mitarbeiter weiter. Nachbarn hätten ein Loch gegraben und die Leichen dort begraben.
Ärzte ohne Grenzen teilte mit, dass Mariupol bereits seit mehr als einer Woche ohne Trinkwasser oder Medikamenten auskommen müsse. Die Menschen behälfen sich, indem sie Wasser aus dem Boden verwendeten. Andere zapften Heizrohre an und kochten es dann über Holzfeuer ab.
Auch Lebensmittel seien in Mariupol knapp, erklärten Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen. Der Mangel an Mobilfunk- und Internetverbindungen bedeute zudem, dass nur Bewohner mit einem Zugang zu tragbaren Funkgeräten auf Informationen über das Geschehen außerhalb ihrer unmittelbaren Nachbarschaft zugreifen könnten.
Am Samstag stießen prorussische Separatisten mit Unterstützung russischer Truppen in östliche Randbezirke der Stadt vor, wie die ukrainischen Streitkräfte mitteilten. Zuvor hatte das russische Verteidigungsministerium die Einnahme mehrerer Stadtteile gemeldet.
Erneut sei ein Konvoi mit Hilfsgütern und Bussen zur Evakuierung in die Stadt aufgebrochen, sagte die stellvertretende ukrainische Regierungschefin Iryna Wereschtschuk. Ob der fünfte Versuch eines Fluchtkorridors gelingen würde, blieb zunächst unklar. Beide Seiten gaben sich gegenseitig die Schuld dafür, dass die Hilfe nicht ankam.
Ukrainische Dörfer und Städte unter Dauerbeschuss
Auch in anderen Städten und Dörfern in der Ukraine gerieten die Menschen am Samstag erneut unter verstärktem Beschuss der russischen Armee. Vor allem aus dem Süden wurden heftige Kämpfe gemeldet, aber auch im Osten sowie aus der Umgebung der Hauptstadt Kiew. Das russische Verteidigungsministerium sprach am 17. Tag des Krieges von Angriffen auf „breiter Entrance“.
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Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski berichtete von erheblichen Verlusten der Angreifer und dem „größten Schlag für die russische Armee seit Jahrzehnten“. Inzwischen seien 12 000 russische Soldaten getötet worden. Die Verluste in den eigenen Reihen seit Kriegsbeginn gab er mit etwa 1300 Soldaten an. Die Zahlen lassen sich nicht unabhängig überprüfen.
Aus dem Süden schrieb der Gouverneur des Gebiets Mykolajiw, Witalij Kim: „Die Besatzer haben nachts mit wahllosem, chaotischem Feuer Krankenhäuser und Internate beschossen.“ Die Angreifer hätten ihre Taktik geändert und versteckten sich in Dörfern zwischen Zivilgebäuden. Mykolajiw liegt an der Mündung des Südlichen Bugs ins Schwarze Meer. Sollten russische Truppen die Stadt einnehmen oder umgehen, stünde ihnen der Landweg nach Odessa offen.
Im Osten des bedrängten Landes soll die umkämpfte Kleinstadt Isjum an der Grenze zum Donezker Gebiet laut ukrainischen Angaben bereits etwa zur Hälfte unter russischer Kontrolle stehen. Die angreifenden Truppen hätten sich im nördlichen Teil der Stadt verschanzt. Eine unabhängige Bestätigung dafür battle nicht möglich.
Rund um die eroberte Stadt Wolnowacha im Donbass versuchten die russischen Truppen nach Kiewer Angaben, eine Offensive zu starten. Heftige Kämpfe habe es zudem um die Ortschaft Rubischne im Luhansker Gebiet gegeben. Ebenfalls im Osten der Ukraine nahmen die Angreifer nach russischen Angaben zahlreiche Ortschaften ein.
Russen sitzen vor Kiew fest
Nach ukrainischen Militärangaben versuchen russische Truppen zudem, die nordostukrainische Stadt Tschernihiw aus südwestlicher Richtung zu blockieren. Selenskyj sagte, die Großstadt mit knapp 280 000 Einwohnern sei ohne Wasserversorgung.
Vize-Regierungschefin Wereschtschuk sprach von geplanten Flüchtlingskorridoren für mehrere Orte nordwestlich von Kiew wie Hostomel, Makariw und Borodjanka. Dort hat sich die russische Armee seit Tagen festgesetzt und versucht weiter, die Hauptstadt auch von Westen her zu blockieren. Bemühungen um die Evakuierung von Bewohnern gab es auch weiter im Nordosten der Ukraine.
In der Nähe von Kiew soll nach Darstellung des russischen Verteidigungsministeriums eine Luftwaffenbasis in Wassylkiw und das nachrichtendienstliche Aufklärungszentrum der ukrainischen Streitkräfte in Browary zerstört worden sein.
Die russische Armee meldete derweil, sie haben am Samstag 79 Militäranlagen zerstört. Darunter seien vier Kommando- und Kontrollzentren der ukrainischen Streitkräfte gewesen, sagte Igor Konaschenkow, Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, der Nachrichtenagentur Interfax zufolge. Angriffe seien zudem auf sechs Munitions- und Treibstoffdepots geflogen worden. Außerdem seien ein ukrainischer Kampfhubschrauber vom Typ Mi-24 und drei Drohnen abgeschossen worden. Diese Angaben ließen sich nicht überprüfen.
Seit Kriegsbeginn vor mehr als zwei Wochen wurden dem Sprecher zufolge insgesamt 3593 ukrainische Militärobjekte zerstört. Russland behauptet, nur militärische Ziele und keine zivilen Objekte anzugreifen.
Die Vereinten Nationen haben dagegen eigenen Angaben zufolge Informationen über den völkerrechtswidrigen Einsatz von Streumunition durch russische Truppen im Ukraine-Krieg – auch in besiedelten Gebieten. Den UN sind nach eigenen Angaben zudem 26 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen in der Ukraine bekannt, bei denen zwölf Menschen gestorben seien.
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Nach Moskauer Angaben haben die prorussischen Separatisten im Gebiet Luhansk die Stadt Sjewjerodonezk mit 100 000 Einwohnern erreicht. Die russischen Streitkräfte hätten ihren Vormarsch in dem Gebiet auf „breiter Entrance“ fortgesetzt und seien weitere zwölf Kilometer vorgerückt. Dabei hätten sie die Kontrolle über mehrere Dörfer erlangt. Auch diese Angaben waren unabhängig nicht überprüfbar.
Deutschland arbeitet nach Angaben von Außenministerin Annalena Baerbock gemeinsam mit internationalen Partnern an einer Artwork Luftbrücke für ukrainische Flüchtlinge aus Moldau. Ziel sei es, das Land zu entlasten und die Ankommenden in andere Staaten zu verteilen, sagte die Grünen-Politikerin nach einem Treffen mit ihrem Kollegen Nicu Popescu in der Hauptstadt Chisinau.
Zugleich kündigte Baerbock an, die Bundesregierung werde in einem ersten Schritt 2500 ukrainische Flüchtlinge aus Moldau direkt nach Deutschland holen. Dies habe sie mit Innenministerin Nancy Faeser (SPD) vereinbart. Faeser kündigte an, die Aufnahme der Flüchtlinge aus Moldau in den nächsten Tagen „schnell und unbürokratisch“ zu organisieren und umzusetzen.
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In Polen werden an diesem Wochenende Sonderzüge eingesetzt, um Flüchtlinge aus der Ukraine nach Deutschland zu bringen. Der stellvertretende polnische Innenminister Pawel Szefernaker sprach am Samstag von jeweils neun Sonderzügen nach Deutschland, zusätzlich zu den acht regulären Zügen, die täglich zwischen Polen und Deutschland unterwegs ist.
Ungeachtet vom Telefonat Putins mit Macron und Scholz verschärften verschiedene Moskauer Regierungsvertreter am Samstag den Ton gen Westen. Der stellvertretende russische Außenminister, Sergej Rjabkow, warnte davor, dass Moskau westliche Lieferungen von militärischer Ausrüstung an die Ukraine ins Visier nehmen könnte. „Das Pumpen von Waffen aus einer Reihe von Ländern, die sie (die USA) orchestriert, ist nicht nur ein gefährlicher Schritt, sondern eine Aktion, die diese Konvois zu legitimen Zielen macht“, sagte er.
USA geben weitere 200 Millionen Greenback
Weiterhin verurteilte er die US-Sanktionen als einen „beispiellosen Versuch, verschiedenen Sektoren der russischen Wirtschaft einen schweren Schlag zu versetzen“, doch Moskau werde maßvoll handeln, um sich nicht selbst zu schaden. Doch die westlichen Staaten scheinen davon bisher unbeeindruckt: Am Samstagabend kündigte US-Präsident Biden an, die Ukraine mit weiteren 200 Millionen Greenback zu unterstützen. Und aus dem Elysee in Paris verlautete, ein neues Sanktionspaket, das Russland auf eine Schwelle mit Nordkorea stellen würde, stehe unmittelbar bevor.
Es bleibt additionally genug Gesprächsstoff für weitere Telefonate mit Putin. Nicht telefonieren, dafür aber sprechen mit Putin würde wohl der ukrainische Präsident. Er sei zu Verhandlungen mit dem russischen Staatschef in Israel bereit. Voraussetzung sei aber eine Feuerpause, sagte Selenski am Samstag. Er habe dem israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett mitgeteilt, dass er bereit wäre, mit dem Kremlchef in Jerusalem zusammenzutreffen. Zu wünschen wäre Selenski, dass diese Gespräche vielleicht ähnlich zäh verlaufen wie jene Putins mit westlichen Staatschefs, dafür aber vielleicht etwas ergebnisorientierter.
Was dabei Hoffnung macht: Laut Selenski sprechen ukrainische Regierungsvertreter derzeit „laufend“ mit russischen Verhandlern per Video-Name. Eine Lösung sei weiter nicht absehbar, so Selenski in einer Videobotschaft von Samstag. Aber: „Die Gespräche gewinnen an Substanz.“
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