New York, Düsseldorf Nach zwei Wochen Krieg in der Ukraine scheint zumindest einer von fünf vereinbarten Fluchtkorridoren zu funktionieren. Rund 6700 Menschen hätten sich aus der Großstadt Sumy gerettet, erklärte die ukrainische Regierung in der Nacht zum Mittwoch. Für andere Städte soll nach russischen Angaben am Morgen ab 08.00 Uhr ein neuer Versuch für Fluchtkorridore starten.
Doch zugleich setzt Russland seine Angriffe auf ukrainische Städte fort. Der Westen versucht, Moskau mit wirtschaftlichem Druck zum Einlenken zu bringen. Ob Kampfjets aus Polen an die Ukraine gehen, ist offen.
Die Frau des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski, Olena Selenska, erneuerte den Appell an den Westen, eine Flugverbotszone über der Ukraine durchzusetzen. In einem offenen Transient an internationale Medien erklärte sie, die russische Invasion komme „dem Massenmord an ukrainischen Zivilisten“ gleich.
Russische Kampfflugzeuge haben nach ukrainischen Angaben neue Luftangriffe auf Wohngebiete im Osten und in der Mitte der Ukraine geflogen. So meldeten in der Nacht zum Mittwoch ukrainische Behörden wieder Tote – darunter auch Kinder – und viele Verletzte bei den Angriffen unter anderem in den Regionen Schytomyr und Charkiw. Die Angaben sind nicht unabhängig zu prüfen.
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Russland beharrt darauf, die Truppen griffen keine zivilen, sondern nur militärische Ziele an. In der Nähe der Stadt Schytomyr zerstörten die Luftangriffe nach Angaben von Bürgermeister Serhij Suchomlyn ein Werk für Mineralwolle.
Russische Artillerie habe Außenbezirke von Kiew unter Beschuss genommen, sagte Jaroslaw Moskalenko, der humanitäre Hilfe in der Area Kiew koordiniert. Zivilisten hätten in Luftschutzräumen Zuflucht suchen müssen. Die Versorgung mit Wasser, Strom und Nahrungsmitteln sei unterbrochen.
Flucht aus Sumy offenbar gelungen
Die Kriegsgegner ringen seit Tagen darum, Zivilisten aus den von Russland belagerten Städten fliehen zu lassen. Über den mit der russischen Armee vereinbarten Fluchtkorridor haben nach ukrainischen Angaben zahlreiche Zivilisten die Area der Großstadt Sumy verlassen können.
Rund 5000 Ukrainer und etwa 1700 ausländische Studenten seien am Dienstag an einen sichereren Ort gebracht worden, sagte Vizeregierungschefin Irina Wereschtschuk der ukrainischen Nachrichtenagentur Unian zufolge. Die Fluchtrouten führten etwa nach Poltawa, nach Lwiw (Lemberg) oder in benachbarte EU-Länder. Die Stadt hat allerdings rund 270.000 Einwohner.
Der humanitäre Korridor aus der ukrainischen Stadt Sumy soll nach Angaben der Regionalbehörden auch diesen Mittwoch aufrecht erhalten bleiben.
Sumy ist die erste von fünf ausgewählten Städten, bei der ein Fluchtkorridor funktionierte. Die Stadt liegt etwa 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Seit Tagen wird Sumy von russischen Truppen angegriffen. Das zentralukrainische Poltawa liegt etwa 170 Kilometer südlich und ist bisher weitgehend verschont geblieben.
Für die umkämpfte südukrainische Stadt Mariupol ist aber bisher kein Fluchtkorridor gelungen. Dort warten nach Angaben des Roten Kreuzes 200.000 Menschen bei katastrophalen Bedingungen darauf, aus der Stadt zu kommen. Auch Hilfslieferungen in die Hafenstadt seien gescheitert, sagte die ukrainische Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk der Agentur Unian.
Die Fluchtrouten führen nach ukrainischen Angaben nach Poltawa, nach Lwiw (Lemberg) oder in benachbarte EU-Länder. Inzwischen sind nach UN-Angaben mehr als zwei Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen.
In Deutschland wurden bis Dienstag rund 64.600 Kriegsflüchtlinge registriert, doch dürften Einschätzung der Behörden schon viel mehr Ukrainer hierher gekommen sein. Der Deutsche Städtetag fordert zur Koordinierung einen Flüchtlingsgipfel von Bund, Ländern und Kommunen, wie Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy der Funke Mediengruppe sagte.
Ukraine schließt Neutralität nicht aus
Der ukrainische Präsident Selenski richtet immer neue Appelle an den Westen, seinem Land zu helfen. „Der Krieg muss enden“, sagte Selenski in einer am Dienstagabend veröffentlichten Videobotschaft. „Wir müssen uns an den Verhandlungstisch setzen.“
Nach Angaben seines außenpolitischen Beraters Ihor Showkwa schließt die Ukraine nicht aus, in Verhandlungen mit Russland auch über eine mögliche Neutralität des Landes zu sprechen. Der Berater forderte in den ARD-„Tagesthemen“ ein direktes Gespräch Selenskis mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin.
Showkwa forderte Deutschland „als Wirtschaftsmotor der EU“ zu weiteren Sanktionen auf. Sein Land bitte um ein Embargo russischen Gases und Öls. Zudem sollten Waren beschlagnahmt werden, die Russen gehören.
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Auch der ukrainische Außenminister Dmitro Kuleba drängte in der Nacht zu Mittwoch bei Fb: „Jede Sanktion, jedes Unternehmen, das Russland verlässt, ist eine Annäherung an den Sieg.“
Appell von Selenskis Ehefrau
Der ukrainische Präsident Selenski ist für seine leidenschaftlichen Hilfsaufrufe für die Ukraine mittlerweile bekannt. Nun hat sich auch seine Frau Selenska mit dramatischen Worten an die Öffentlichkeit gewandt. In einem offenen Transient an internationale Medien erklärte sie, die russische Invasion komme „dem Massenmord an ukrainischen Zivilisten“ gleich. Das Schrecklichste an der Invasion seien die Opfer unter den Kindern, schrieb sie.
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Selenska erwähnte die achtjährige Alice, die in den Straßen von Ochtyrka starb, während ihr Großvater versuchte, sie zu schützen, und Polina aus Kiew, die beim Beschuss mit ihren Eltern umkam. Sie verwies auch auf den 14-jährigen Arsenij, der von Trümmern am Kopf getroffen wurde und nicht gerettet werden konnte, weil ein Rettungswagen wegen heftiger Gefechte nicht rechtzeitig zu ihm durchkam.
„Dieser Krieg wird gegen die Zivilbevölkerung geführt, und nicht nur durch Beschuss“, schrieb Selenska. Sie verwies auf den Mangel an grundlegenden Medikamenten in den belagerten Städten. Selenska unterstützte die Forderung ihres Mannes, Präsident Selenski, an den Westen, der russischen Luftüberlegenheit etwas entgegenzusetzen. „Sperrt den Himmel, und wir bewältigen den Krieg auf dem Boden selbst.“ Diese Informationen lassen sich nicht unabhängig prüfen.
Eine Flugverbotszone über der Ukraine hat bis jetzt nicht nur die Bundesregierung ausgeschlossen, weil sonst die Nato mit in den Krieg hineingezogen werden könnte. Doch wird nun diskutiert, MiG-Kampfflugzeuge aus Polen an die Ukraine zu liefern. Unklar ist nur wie, weil auch hier eine Verwicklung ins Kampfgeschehen befürchtet wird.
Streit um polnische Kampfflugzeuge
Polen hatte vorgeschlagen, die Flieger den USA zu überlassen – wohl, um sie mit einem Zwischenstopp auf dem Stützpunkt Ramstein in Deutschland irgendwie in die Ukraine zu bringen. Das wiederum hält die US-Regierung für nicht machbar.
Der polnische Vorschlag bringe „schwierige logistische Herausforderungen“ mit sich, zudem gebe es angesichts der geopolitischen Dimension „ernsthafte Bedenken“, erklärte der Sprecher des Pentagons, John Kirby. Eine High-Diplomatin des Außenministeriums, Victoria Nuland, bezeichnete das zuvor offenbar nicht mit Washington abgestimmte Angebot Polens in einer Anhörung im Senat als „überraschenden Schritt“.
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Kirby erklärte, das Pentagon sei nach der polnischen Erklärung im Kontakt mit Warschau. Die Entscheidung, der Ukraine polnische Kampfflugzeuge zu überlassen, sei letztlich eine Sache der polnischen Regierung.
Die Vorstellung, dass Kampfflugzeuge, die dem US-Militär übergeben worden seien, im Krieg mit Russland von einem US- beziehungsweise Nato-Stützpunkt in Deutschland in den umkämpften ukrainischen Luftraum flögen, werfe „ernsthafte Bedenken für das gesamte Nato-Bündnis auf“, erklärte Kirby weiter.
„Es ist für uns schlicht nicht klar, dass es eine stichhaltige Begründung dafür gibt.“ Kirby fügte in der ungewöhnlich deutlichen Erklärung hinzu, die USA würden das Thema mit Warschau und den Nato-Verbündeten weiter besprechen, aber man glaube nicht, dass der Vorschlag Polens „haltbar“ sei. Die USA, Deutschland und zahlreiche Nato-Verbündete unterstützen Kiew mit der Lieferung von Waffen und Ausrüstung für das ukrainische Militär.
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hatte sich wegen ähnlicher Bedenken am Dienstag zurückhaltend zu den Überlegungen geäußert.
Russische Wirtschaft wankt
Da militärische Hilfe heikel ist, setzt der Westen vor allem auf wirtschaftlichen Druck. Die Bundesregierung sieht zwar bisher keine Möglichkeit, auf russische Energieimporte zu verzichten. Die USA hatten aber am Dienstag ein Importverbot für russisches Öl erlassen und Großbritannien eines avisiert. Mit Coca-Cola, Pepsico und Starbucks kündigten weitere Weltkonzerne Einschränkungen ihres Russland-Geschäfts an.
Die russische Wirtschaft scheint wegen der zahlreichen Sanktionen inzwischen auch schwer angeschlagen. Die russische Zentralbank verhängte drastische Einschränkungen für den Devisenhandel. So werden russische Banken kein ausländisches Bargeld mehr an Bürger verkaufen können, wie die Zentralbank mitteilte. Die Ratingagentur Fitch stufte Russlands Kreditwürdigkeit erneut herunter – auf Ramschniveau. Die Ratingnote bedeute, dass ein Zahlungsausfall unmittelbar bevorstehen dürfte, teilte Fitch mit.
Das wird heute wichtig
Nach russischen Angaben soll ab 08.00 Uhr eine Feuerpause gelten, um weitere Fluchtmöglichkeiten zu eröffnen. Bundeskanzler Olaf Scholz spricht mit dem kanadischen Premierminister Justin Trudeau. Und der Innenausschuss des Bundestags befasst sich mit den Folgen des Krieges. Der russische Außenminister Sergej Lawrow reist laut einem Bericht der russischen Nachrichtenagentur Tass im Laufe des Tages in die Türkei, um Gespräche mit seinem ukrainischen Amtskollegen Kuleba zu führen. Die Tass-Meldung beruft sich auf das russische Außenministerium.
Mit Agenturmaterial.
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