Ein mögliches Zukunftsszenario der Ukraine malte die US-Historikerin Mary Elise Sarotte bei „Maischberger“. Widerspruch gab es von einer Militärexpertin.
„Die Ukraine könnte die Bundesrepublik Deutschland des 21. Jahrhunderts werden“ – damit lieferte Mary Sarotte die vielleicht interessanteste These des Abends. Dieser Vergleich diente einem theoretischen Zukunftsszenario der Ukraine, in dem das Land eine „neue Frontlinie definieren“ würde, die sich militärisch verteidigen ließe. Mit diesen Grenzen käme die Ukraine dann in die Nato – genau wie damals die BRD, so die Historikerin.
Man würde die „alten Gebiete“ zwar nicht aufgeben und immer noch auf eine Wiedervereinigung hoffen, eine solche für den Moment jedoch als unrealistisch ansehen. „Das ist einerseits deprimierend, andererseits hat diese Idee den Vorteil, dass man einen Frieden ohne Putin schaffen kann“, erklärte sie. Man müsse Putin (den sie als „von der Geschichte besessen“ bezeichnete) die Initiative wegnehmen.
Die Gäste
- Hubertus Heil (SPD), Bundesarbeitsminister
- Claudia Major, Militärexpertin
- Mary Elise Sarotte, US-amerikanische Historikerin
- Constantin Schreiber, Tagesschau-Sprecher
- Jagoda Marinić, Autorin und Kolumnistin
- Gabor Steingart, Journalist
Major: „Lage für die Ukraine eher düster“
Die Militärexpertin Claudia Major sah diese Idee eher gespalten. Sie finde es zwar gut, „dass man den Nato-Beitritt kreativ denkt“. Jedoch, so Major, sei es schwierig, das mit der Bundesrepublik Deutschland zu vergleichen. Der große Unterschied in der Ukraine sei die aktive Russifizierungspolitik Russlands – das Abschaffen von allem Ukrainischen. „Wenn das lange dauert, gibt es keine Ukraine mehr, die man wiedervereinigen kann. Dann hat Russland alle Gebiete russifiziert und integriert.“
Sowohl für Sarotte als auch Major steht fest: Putins Narrativ einer unzulässigen Osterweiterung der Nato und einem Vertragsbruch ist schlichtweg falsch. Im 2+4-Vertrag stehe explizit geschrieben, dass die Nato ihr Artikel-5-Territorium erweitern dürfe. Russland habe diesen Vertrag unterschrieben, ratifiziert und dafür Geld kassiert, so die Historikerin.
Die Lage sei für die Ukraine eher düster, erläuterte Major. Die Einnahme von Awdijiwka durch Russland ändere zwar nichts am Kriegsverlauf, zeige aber deutlich, wie es derzeit um die ukrainischen Streitkräfte bestellt ist. „Es fehlt ihnen an Material, an Ausrüstung, an Geld“, attestierte sie. Es sei absehbar, dass die ukrainische Armee in diesem Jahr Gebiete verlieren werde, die sie im vergangenen Jahr befreien konnten. „2024 wird enorm hart, weil wir jetzt schon sehen, dass die westliche Unterstützung in vielen Teilen fehlt.“ Man könne jetzt schon voraussehen, dass die Ukraine erst Ende 2024 eine neue Offensive starten kann.
Über die Möglichkeit von Verhandlungen im Ukraine-Krieg sprachen auch die anderen Gäste. Jagoda Marinić etwa plädierte für klare Signale einer militärischen Unterstützung für die Ukraine. Zwar müsse man auch über neue Gespräche reden – allerdings sei auch bereits viel verhandelt worden.
Olaf Scholz‘ Kommunikation bezüglich Waffenlieferungen an die Ukraine kommentierte Tagesschau-Sprecher Constantin Schreiber kritisch: „Man soll es gar nicht verstehen. Er will sich alle Möglichkeiten offen halten und möglichst vage und nebulös sein.“ Marinić dazu: „Ich glaube, er weiß es einfach wirklich nicht. Es gibt Momente, da zögert er sehr laut. Dann gibt es Momente, da steht er ganz deutlich an der Seite von Selenskyj. Er vermisst permanent die Lage. Im Moment ist Biden schwach, deswegen fehlt ihm die Möglichkeit, sich an ihn dranzuhängen“. Scholz habe Angst, „die Führungsrolle mit den USA im Rücken“ zu übernehmen.
Hubertus Heil: „Deutschland ist zu lahmarschig geworden“
Auch die innerdeutsche Politik bekam ihren Raum in der Sendung. Gabor Steingart zeigte sich dabei besonders kritisch gegenüber Vizekanzler Robert Habeck. Dieser sei als Wirtschaftsminister eine Fehlbesetzung, so Steingart: „Er hat kein Gespür für die Wirtschaft. Er ist der Melker mit den kalten Händen – und da gibt die Kuh keine Milch.“ Marinić kritisierte dies als populistische Auffassung. „Wir sollten raus aus der Lethargie, aus dem Verhöhnen von Politikern“, meinte sie.