Brüssel, Berlin Es ist längst mehr als die im Ukrainekonflikt üblichen Provokationen. Die Botschaft aus Moskau an den Westen ist scharf und unmissverständlich: Es herrscht akute Kriegsgefahr in Europa. Täglich nehmen die Spannungen zu, täglich schrumpft der Raum für Diplomatie.
Russland wirft der Ukraine vor, einen Militärschlag im Osten des Landes vorzubereiten – und schafft sich so das, wovor westliche Geheimdienste in den vergangenen Monaten gewarnt haben: eine Rechtfertigungsgrundlage für einen Einmarsch. In einer Sichel, die von Belarus bis hinunter zur Krim-Halbinsel und weiter bis Moldau führt, haben 100.000 russische Soldaten, Panzer und Geschütze die Ukraine umstellt. Ein Befehl aus dem Kreml – und die Invasion beginnt.
Mit scharfen Worten verurteilt die Europäische Union das Verhalten der russischen Führung. „Anhaltende aggressive Handlungen und Drohungen gegen die Ukraine“ prangern die EU-Außenminister in einer gemeinsamen Erklärung an, auf die sie sich am Montag bei ihrem Treffen in Brüssel verständigt hatten.
Einflusszonen, wie sie von Russland beansprucht werden, hätten „keinen Platz im 21. Jahrhundert“. Erneut kündigten die Außenminister an, dass „jede weitere Aggression“ seitens der Russen „large Konsequenzen und hohe Kosten“ hätte. Zu den Brüsseler Beratungen wurde auch US-Außenminister Antony Blinken zugeschaltet, um die Europäer über das jüngste Treffen mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow in Genf zu unterrichten.
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Moskau scheint zum Einlenken nicht bereit
Russland scheint demnach zu keiner Deeskalation bereit zu sein – im Gegenteil. Zwar hatte Lawrow am Freitag nach dem Treffen mit Blinken weiteren Gesprächen zugestimmt. Doch am Montag verschärfte die russische Führung ihren Konfrontationskurs gegen den Westen wieder. Nie, so die Warnung des Kremls, sei die Gefahr eines Kriegs so groß gewesen wie heute.
US-Präsident Joe Biden wollte sich noch am Montagabend mit den Europäern in einer Videokonferenz beraten. Neben Bundeskanzler Olaf Scholz, dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, dem polnischen Staatschef Andrzej Duda, dem italienischen Premier Mario Draghi und dem britischen Regierungschef Boris Johnson nehmen nach Angaben des Weißen Hauses auch EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen, EU-Ratspräsident Charles Michel und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg teil. Es gehe dabei um „Russlands militärische Aufrüstung an den Grenzen der Ukraine“, wie das Weiße Haus erklärte.
Doch nach russischer Darstellung sind allein die Europäer und die USA Schuld an der Krise. Putins Sprecher Dmitri Peskow zufolge „pumpt“ die Allianz Waffen in die Ukraine und dringe mit ihrer Infrastruktur, ihren Waffen und Ausbildern selbst „allmählich“ in das ukrainische Hoheitsgebiet ein.
Die EU weist das entschieden zurück. „Die Verbreitung kremlfreundlicher Desinformation soll das wahre Ausmaß und den Zweck der vermehrten militärischen Präsenz Russlands nahe der Ukraine verschleiern“, schreibt der Auswärtige Dienst der EU in einer Analyse.
Die Nato reagiert auf die russische Truppenmobilisierung mit eigenen militärischen Maßnahmen. Die Streitkräfte der Nato-Staaten seien in Alarmbereitschaft, stellte Jens Stoltenberg, Generalsekretär der Verteidigungsallianz, klar. „Ich begrüße es, dass die Verbündeten zusätzliche Kräfte zur Nato beisteuern“, sagte er in Brüssel. Die Verteidigungsallianz werde „alle notwendigen Maßnahmen ergreifen“, um ihre Verbündeten zu verteidigen, und sie werde „den östlichen Teil des Bündnisses“ verstärken.
Die USA erwägen, ihre Truppenpräsenz in Osteuropa zu verstärken. Laut der „New York Occasions“ legte das Pentagon US-Präsident Joe Biden Pläne vor, „einige Tausend Truppen, zudem Kriegsschiffe und Flugzeuge“ im Baltikum und in Osteuropa zu stationieren. Auch andere Nato-Staaten wollen Kontingente im Osten verstärken.
Wie ernst die russischen Drohgebärden im Westen genommen werden, zeigt auch die Entscheidung der USA, Angehörige ihrer Botschaft in Kiew zur Ausreise aus der Ukraine aufzurufen. Die Bundesregierung hält einen solchen Schritt derzeit noch nicht für geboten, bietet Angehörigen des Botschaftspersonals aber eine kostenlose Ausreise an.
„Die Sicherheit von Mitarbeitenden hat oberste Priorität“, sagte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock vor ihren Beratungen in Brüssel. Wichtig sei es aber, „nicht zu einer weiteren Verunsicherung der Lage beizutragen“, sondern „die ukrainische Regierung weiter ganz klar zu unterstützen“. Die EU-Kommission sagte dafür am Montag dem bedrängten Land weitere 1,2 Milliarden Greenback zu.
Kritik am „deutschen Sonderweg“
Während vor allem die Osteuropäer vehement eine Politik der Stärke einfordern und auf militärische Abschreckung setzen, zögert Deutschland. Koalitionsinterne Debatten und die Sorge, den Konflikt noch weiter anzuheizen, bremsen die Bundesregierung – und lösen worldwide heftige Kritik aus.
„Es ist jetzt absolut notwendig, dass es keinen deutschen Sonderweg gibt, sondern eine klare europäische Positionierung gefunden wird“, unterstrich der langjährige Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger. Der Westen brauche „eine starke Doppelstrategie, die sowohl auf glaubwürdige Abschreckung als auch Dialog setzt“.
So sieht es auch die Union: „Wir müssen klare und harte Botschaften senden und dürfen keine Sanktionsoptionen herausnehmen – und müssen dabei geschlossen sein in Deutschland, Europa und der Nato. Sonst legt Putin das als Schwäche aus“, warnte der Vize-Unionsfraktionschef Johann Wadephul. Wenn das transatlantische Bündnis eine Verstärkung der Nato-Truppen in Osteuropa beschließe, „sind wir bereit, das zu unterstützen. Deutschland wird jeden nötigen Beitrag leisten“, so der CDU-Außenpolitiker.
Er forderte Bundeskanzler Olaf Scholz auf, das Ukrainethema nicht „weiter zu ignorieren“. Scholz „muss auch außenpolitisch führen“. Wadephul verlangte vor allem in Hinblick auf militärische Ukrainehilfen westlicher Associate: „Wenn andere Nato-Länder liefern wollen, darf Deutschland wenigstens nicht blockieren, das ist das Mindeste.“
Doch ebendies tut die deutsche Regierung derzeit. Zwischen den Ressorts wird über das Ansinnen Estlands beraten, Haubitzen, die ursprünglich aus Beständen der Nationalen Volksarmee der DDR stammen, an die Ukraine zu liefern. Dafür ist die Zustimmung der Bundesregierung erforderlich. Eine Regierungssprecherin betonte am Montag, dass es sich bei den Haubitzen um letale Waffen handele. Die Lieferungen solchen Kriegsgeräts hatte Berlin bisher strikt abgelehnt.
Dass „unsere Partnerländer unsere Haltung befremdlich finden“, räumte die grüne Europapolitikerin Viola von Cramon ein: „Wir müssen aufpassen, dass wir das Vertrauen der Ukraine nicht komplett verlieren.“ Baerbock habe bei ihren Besuchen in Kiew und Moskau gezeigt, dass deutsche Außenpolitik verlässlich bleibe. „Auch der Kanzler muss nun dringend noch mehr Empathie zeigen und eine gemeinsame Linie vorgeben“, forderte von Cramon. Zu dieser Linie zähle, „nichts auszuschließen und keine Waffenhilfen anderer Länder an die Ukraine zu behindern“.
Baerbock hatte bisher Waffenlieferungen an die Ukraine verhindert, die Cooks von CDU und CSU, Friedrich Merz und Markus Söder, hatten harte Wirtschaftssanktionen abgelehnt. Die Regierung in Moskau weist den Vorwurf zurück, eine Invasion vorzubereiten. Sie fordert aber Sicherheitsgarantien der Nato wie eine Absage an eine Aufnahme der Ukraine. Die Allianz lehnt dies mit Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht von Staaten zurück, hat der Ukraine aber keine konkrete Beitrittsperspektive in Aussicht gestellt.
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