Ein ehemaliger Soldat nimmt Geiseln in Ulm. Posttraumatische Belastungsstörungen sind bei vielen Soldaten Realität. Muss Deutschland ihnen entschiedener helfen?
Ein ehemaliger Soldat der Bundeswehr hat am Freitag in Ulm Geiseln in einer Starbucksfiliale genommen. Am Ende wird der Mann durch Schüsse von einer SEK-Einheit schwer verwundet, die Geiseln blieben körperlich unverletzt.
Kurz nach der Tat berichtet „Bild“ davon, dass es sich bei dem mutmaßlichen Täter um einen Afghanistan-Veteranen handeln soll. Der 44-Jährige soll dem Bericht zufolge unter posttraumatischen Belastungsstörungen – kurz: PTBS – leiden. Bestätigen ließ sich dies zunächst nicht.
Dass PTBS unter deutschen Soldatinnen und Soldaten vorkommt, ist jedoch ein Fakt. t-online fasst das Wichtigste über die Situation der Betroffenen in Deutschland zusammen.
Wie viele Soldaten sind in Deutschland von PTBS betroffen?
Laut einer eigenen Studie der Bundeswehr wurde 2022 bei 197 Soldatinnen und Soldaten eine Neuerkrankung an PTBS diagnostiziert. Bei 108 wurden andere psychische Erkrankungen festgestellt. Die Zahlen aus den Jahren zuvor sahen ähnlich aus. „Etwa drei Prozent aller Soldatinnen und Soldaten erleiden im Einsatz eine Posttraumatische Belastungsstörung. Nur die Hälfte davon wird diagnostiziert“, schreibt die Bundeswehr in ihrer Veröffentlichung. Einsatzbedingte psychische Erkrankungen werden erst seit 2011 von der Bundeswehr statistisch erfasst.
t-online hat bei Bernhard Drescher, dem Vorsitzenden des Bundes Deutscher „Einsatz Veteranen e.V.“, nachgefragt.
„Das ist nur ein ganz kleiner Teil der Wahrheit„, so der Oberstleutnant a.D. über die von der Bundeswehr veröffentlichten Zahlen. Drescher ist bereits 14 Jahre in der Fürsorge von Einsatzveteranen aktiv. Seiner Erfahrung nach dauert es meist rund fünf bis sieben Jahre, bis PTBS-Betroffene überhaupt versuchen, sich Hilfe zu holen.
In der „Dunkelzifferstudie 2013“ kommt die Technische Universität Dresden zu dem Schluss, dass die unerkannten Fälle von „PTBS und anderen psychischen Erkrankungen auf etwa 50 Prozent geschätzt werden können“. Andere Studien gehen rund 35 Prozent beziehungsweise 20 Prozent aus. In Deutschland haben wir derzeit rund 400.000 aktive und inaktive Einsatzteilnehmende, schätzt Drescher.
Bernhard Drescher
Drescher ist Oberstleutnant a.D. und Bundesvorsitzender des Bundes Deutscher EinsatzVeteranen e.V.. Der Verein setzt sich seit 2010 für Einsatzveteranen außer Dienst ein. Drescher ist selbst Veteran und hat mit PTBS zu kämpfen. Derzeit unterstützt der EinsatzVeteranen e.V. rund 500 Familien von PTBS-Betroffenen.
Geht man nun davon aus, dass rund 20 Prozent von einsatzbedingten psychischen Erkrankungen betroffen sind, dann gibt es in Deutschland theoretisch rund 80.000 Betroffene. „Also weitaus mehr als es in den Veröffentlichungen der Bundeswehr aufgeführt sind“, gibt Drescher zu bedenken. Auch wenn es sich dabei dann nicht nur um PTBS handelt, haben doch alle der einsatzbedingten psychischen Erkrankungen im Kern eines gemeinsam: „Sie werfen die Leute aus ihrem sozialen Leben.„
Geiselnahme in Ulm: PTBS als Gefahr für die Gesellschaft?
Grundsätzlich unterscheidet man zwei Kategorien von PTBS-Betroffenen: extrovertiert und introvertiert. Drescher arbeitet seit 14 Jahren mit Betroffenen; seiner Erfahrung nach bildet die Gruppe der Introvertierten die überwiegende Mehrheit in Deutschland. „Das sind diejenigen, die in ihrem Leid zusammen fallen und nicht mehr am Leben teilnehmen.“
Bei der Geiselnahme von Ulm handelt es sich um ein klassisch extrovertiertes Verhalten, sollte es den auf eine PTBS-Erkrankung zurückzuführen sein, davon ist Drescher überzeugt. „Wir haben die letzten 30 Jahre Glück gehabt, dass so etwas nicht passiert ist“, sagt Drescher über die Situation in Ulm.
Extrovertiertes Verhalten bei PTBS-Betroffenen zeigen sich häufig durch häusliche Gewalt, oft in Verbindung mit Alkoholismus. Auch aggressives Verhalten im Straßenverkehr ist eine mögliche Konsequenz, so die Erfahrung von „Einsatz Veteranen e.V.“ Generell sind die extrovertierten Fälle, die dann auch zu Gewalt neigen, nach Einschätzung des „Einsatz Veteranen e.V.“ wenige. „Was nicht heißt, dass es nicht auch zu sehr exzessiven Gewaltausbrüchen kommen kann.“
Allerdings stehen die Aussichten auf eine erfolgreiche Behandlung von PTBS-Betroffenen sehr gut. Die Erfolgsquote liegt schätzungsweise zwischen 80 und 90 Prozent, wie das Fachmagazin „Wissenschaft im Dialog“ schreibt. Eine umgehende Behandlung ist bei PTBS jedoch besonders wichtig, wie es weiter heißt. Andernfalls können sich chronische Störungen entwickeln, die dann zu einer dauerhaften Einschränkung führen. Genau hier sehen verschiedene Experten jedoch ein Problem.
PTBS zieht meist weitere Probleme nach sich
Wird eine PTBS-Erkrankung während der aktiven Bundeswehrzeit diagnostiziert, dann greifen die systeminternen Auffangmechanismen. „Die Bundeswehr entlässt niemanden krank“, stellt Drescher klar. Das bedeutet: Betroffene können so lange im Arbeitsverhältnis bleiben, bis eine vollständige Genesung eintritt. Außerdem wird die medizinische Versorgung von der Bundeswehr gestellt und wenn nötig eine berufliche Umschulung in die Wege geleitet. „Die Möglichkeiten der Bundeswehr sind definitiv besser als im Zivilen, man bekommt hier auch relativ kurzfristig einen Therapieplatz“. Möglich macht das das sogenannte Einsatzweiterverwendungsgesetz.