Der Topos „Goldgräber-Stimmung“ klingt eher untertrieben: Zahllose Begin-ups, Tech-Riesen, Investoren und andere sehen mit großen Erwartungen dem Zeitalter des autonomen Fahrens entgegen. Das gilt insbesondere für US-amerikanische und chinesische Hightech-Unternehmen. Eine ganze Armee von Interessenten hat sich auf den Weg gemacht, um das neue Gold der Mobilität zu schürfen.
Das autonome Fahren versetzt neben Unternehmen auch chinesische Mega-Städte wie Schanghai, Peking, Shenzhen, Nanjing oder Wuhan in geradezu rauschhafte Stimmung. China ist der mit Abstand größte und am dynamischsten wachsende Markt für Mobilität. Wer es in der Volksrepublik zuerst schafft, funktionsfähige Systeme autonomen Fahrens aufzubauen, hat die Likelihood, ein Monopol zu errichten. Genau das dürfte den US-Konzern Google angetrieben haben, frühzeitig autonom fahrende Autos zu entwickeln. Allerdings: Beim Rennen um die Robo-Automobiles konnten bisher viele Erwartungen nicht erfüllt werden.
Google begann ungefähr im Jahr 2010 mit seinen Projekten zum autonomen Fahren. Sebastian Thrun, ein Stanford-Wissenschaftler, wurde Projektleiter. Thrun hatte mit selbstfahrenden Autos experimentiert und mit einem aufgerüsteten VW Touareg ein vom US-Verteidigungsministerium gesponsertes Rennen für autonomes Fahren gewonnen – die DARPA Grand Problem. In knapp sieben Stunden Fahrzeit brachte er seinen Robo-Automotive über intestine 200 Kilometer Wüstengelände ins Ziel.
Zur richtigen Marktreife brachte es Thruns Konzept dennoch nicht. Schon 2012 hatte Google-Mitgründer Sergey Brin erklärt, die Bürger würden in weniger als fünf Jahren Zugang zu autonomen Fahrzeugen haben. Davon kann bis heute jedoch keine Rede sein.
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Dynamisch startete auch Elon Musk mit seinem Tesla-Autopiloten. Der Autopilot musste in den USA zwar bald durch die Software program „Full Self Driving“ ersetzt werden. Der entscheidende Unterschied zu Thruns Projekt besteht aber darin, dass Musks „Machine-Studying“-Software program riesige Datenmengen aus tatsächlichen Fahrten sammeln konnte – und so ihre Algorithmen an die Realität anpassen konnten. Trotz der Weiterentwicklung gelang es jedoch auch Tesla nicht, ein autonomes Fahrzeug zu entwickeln, das jeder x-beliebige Bürger nutzen könnte.
Woher kommt die neue Goldgräberstimmung?
Die klassischen Automobilkonzerne hingegen haben das Thema autonomes Fahren lange Zeit mit spitzen Fingern angefasst – sie integrierten lediglich einzelne Assistenzfunktionen aus dem Spektrum der Superior Driver Help Methods zur Unterstützung des Fahrers vor allem in gefährlichen Verkehrssituationen. Ein wesentlicher Grund für die Zurückhaltung waren die erwarteten hohen Kosten und damit hohen Verkaufspreise für autonom fahrende Autos.
Die sogenannte Degree-4-Automatisierung, die erlaubt, Fahrzeuge ohne menschlichen Eingriff fahren zu lassen, wurde nur für Spezialbereiche wie etwa Autobahnfahrten bis 80 Stundenkilometer freigegeben. Woher aber kommt angesichts dieser eher tristen Vorgeschichte nun plötzlich die neue Goldgräberstimmung? Sie kommt daher, dass autonomes Fahren heute nicht mehr ein Projekt von Pionieren wie Thrun oder Musk ist, sondern gleichsam eine konzertierte Aktion von vielen Unternehmen, Organisationen und Städten. Wer sind die wichtigsten Akteure?
Auf der einen Seite die Pkw-Hersteller, die gerade in China ihre besonders Software program-affinen Kunden mit Technik überzeugen. Dazu ein Beispiel: Die Automarke AION des chinesischen Autobauers GAC hat jüngst den SUV AION LX PLUS vorgestellt. Das Modell verfügt unter anderem über 35 intelligente Sensoren, sechs Millimeterwellenradare, zwölf Ultraschallradare und acht hochauflösende Kameras.
Außerdem ist in das rund 45.000 US-Greenback teure SUV ein Rechner integriert, der nicht weniger als 200 Billionen Rechenoperationen professional Sekunde schafft. Solche Hochleistungsrechner ermöglichen, dass autonomes Fahren in China bald keine Zukunftsvision mehr sein wird.
China prescht mit autonom fahrenden Lkw vor
Auf der anderen Seite steigen Logistikdienstleister, Fahrdienstanbieter und Lebensmittelieferanten mit dreistelligen Millionen-Dollarbeträgen bei Begin-ups ein, die sich mit autonomem Fahren beschäftigen. Der Lebensmittellieferant Meituan etwa ist in intestine 2800 chinesischen Städten vertreten und bearbeitet täglich 43,6 Millionen Aufträge. Im Herbst 2021 hatte Meituan bereits 100 autonom fahrende Robo-Automobiles im Einsatz, die mehr als 100.000 Aufträge erledigten.
Ähnliche Projekte hat Chinas größte IT-Firmengruppe Alibaba unlängst auf dem Campus der Zhejiang-Universität einem Praxistest unterzogen: Am Black Friday lieferten 22 „Xiao Man Lv“ genannte Roboter – übersetzen kann man das mit „robuster Esel“ – 50.000 Pakete in den Campus-Wohngebäuden ab. Die letzte Meile in der Logistik wird in China bald eine Roboter-Meile sein. Darüber hinaus prescht China mit autonom fahrenden Lastkraftwagen vor.
So testet das Begin-up Plus.ai. auf chinesischen Straßen mit Schwerlastern seine L4-Software program. Logistikdienstleister auch aus Europa haben schon 10.000 selbstfahrende Lkws bestellt. Der chinesische Lkw-Hersteller FAW-Jiefang bietet seine Nutzfahrzeuge bereits mit dem L4-System von Plus.ai an.
In der Volksrepublik begegnet man auch schon fahrerlosen Robo-Taxen. Als erstes Unternehmen lässt AutoX solche Taxen auf einer Fläche von 168 Quadratkilometern im „Echteinsatz“ fahren. In der Hauptstadt Peking haben die Unternehmen Baidu Apollo und Pony.ai die Lizenz, auf 350 Kilometern 67 Robo-Taxen fahren zu lassen. Die Fahrzeuge sammeln an 600 Haltepunkte ihre Gäste ein. Bis zum Jahr 2025 will Baidu-Apollo in 65 Großstädten Robo-Taxen einsetzen.
Die Preise dürften spektakulär sinken
Nicht zuletzt wetteifern chinesische Metropolen um das autonome Fahren. Die Verkehrskommission von Schanghai beispielsweise hat im vergangenen November angekündigt, die kommerzielle Nutzung von intelligenten Taxen, Bussen, Frachtdiensten und Letzte-Meile-Lieferungen entschlossen voranzutreiben. Keine Frage: Autonome Fahrzeuge werden die Welt schneller verändern, als es sich heute viele noch vorstellen können.
Und die Preise dürften geradezu spektakulär sinken. So hat das junge chinesische Unternehmen DeepRoute.ai. angekündigt, bald komplette Systeme, um Autos autonom fahren zu lassen, zum Preis von 10.000 US-Greenback anzubieten. Es geht dynamisch voran in China. Und in Deutschland und Europa? Um den Anschluss an die Mobilität der Zukunft nicht zu verlieren, sind gemeinsame Projekte mit dem Vorreiter China unverzichtbar – zumal fahrerlose Autos und Lkws die Logistikkosten erheblich senken werden, auf dem Weltmarkt ist das ein wichtiger Wettbewerbsfaktor.
Es erscheint allerdings fraglich, ob solche deutsch-chinesischen Kooperationen vor dem Hintergrund einer vor allem an Menschenrechtsaspekten orientierten Politik des Auswärtigen Amts möglich sind. Statt auf Idealismus zu setzen, sollte unsere China-Politik deshalb mehr Pragmatismus zulassen. Denn eines ist sicher: Sind wir bei der Mobilität der Zukunft überwiegend von chinesischer Technologie abhängig, werden Berlins Spielräume für humanitäre Interventionen gegenüber Peking gegen null tendieren. Und das wäre nicht im Interesse der Menschenrechte.
Der Autor: Ferdinand Dudenhöffer ist Direktor des Heart Automotive Analysis, Duisburg.
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