Seinem ganzen Wesen nach war Gerhart Baum ein Liberaler, in dessen Augen sich die FDP zu einseitig auf Wirtschaft fixierte. Hochbetagt kritisierte er mit geschliffener Rhetorik auch das Aufblühen der AfD.
Gerhart Baum war ein liebenswürdiger Mensch. Ihm zu begegnen war immer eine Freude. Er war hellwach, neugierig, wollte hören, was andere dachten, wie sie die Lage einschätzten, welche Schlussfolgerungen sie zogen. Seine eigene Meinung kannte er ja. Er plusterte sie nicht im Stil der Weisheit auf, gewonnen aus einem Leben, das mit deutscher Nachkriegsgeschichte identisch war. Ich verabschiedete mich oft genug klüger und fröhlicher von ihm. Gerhart Baum war schon vor 30 Jahren eine Seltenheit, ein Politiker, der es der Politik nicht erlaubte, ihn als Mensch unsichtbar zu machen.
Er war oldschool, das ja. Geprägt von seiner großbürgerlichen Herkunft und der Jugend im Nationalsozialismus. Er war zwölf, als seine Heimatstadt Dresden im Feuersturm unterging. Natürlich schärften die Erfahrungen im Krieg und danach seine politische Haltung. Er machte Abitur in Köln in der neuen Demokratie, studierte Jura im Wirtschaftswunder, befürwortete die Aussöhnung mit den Kriegsgegnern in der Entspannungspolitik. Die AfD erschien aus dieser Lebenserfahrung als Wiederkehr des Bösen in neuem Gewand. Die neuen Verhältnisse, in denen die Rechte gedeihen konnten, trieben ihn zur Verzweiflung.
Gerhart Baum war seinem ganzen Wesen nach ein Liberaler. Rund 70 Jahre lang gehörte er der FDP an und machte etliche ihrer Häutungen mit. Den größeren Teil seines Lebens litt er an seiner Partei, wollte sie verändern und trug zu ihrer Reputation bei. Er verstand das Leben und die Geschichte als steten Prozess. Wer so denkt, für den ist es keine Überraschung, dass es nie nur hoch und nie nur runter geht. Das Auf und Ab lässt sich nicht verhindern, aber abfedern.
Selten ging es mit der FDP so bergab wie derzeit. Dass sie am 23. Februar wieder in den Bundestag einziehen darf, ist unwahrscheinlich. Aus der Sicht eines Veteranen wie Baum lag die Ursache in der Eindimensionalität. Denn die FDP ist heute gleichbedeutend mit Christian Lindner, und der ist gleichbedeutend mit Wirtschaftsliberalismus. Engführung ist schlecht, so viel lässt sich aus der Geschichte des deutschen Liberalismus lernen.
In den 1950er-Jahren war die FDP ein Sammelbecken alter Nazis. Darauf zielte sie ab, damit ließen sich Stammwähler sichern. Sie regierte als kleine Partei mit der großen CDU/CSU, die Kanzler Konrad Adenauer zuerst als Patron und später als Patriarch führte. In diesem Schlepptau blieb die FDP bis zum Machtwechsel 1969. In die Koalition mit der SPD trat sie als doppelte FDP ein: mit der Altlast und einer neuen Generation der Sozialliberalen, zu der Gerhart Baum gehörte.
Sozialliberal hieß: moderner Rechtsstaat und Datenschutz, Betonung des Sozialen in der Marktwirtschaft, Emanzipation der Frauen (die bis 1977 nur mit Erlaubnis des Ehemannes arbeiten durften). Dazu kam der Umweltschutz – jawohl, kaum zu glauben, aber es war die FDP, die als erste deutsche Partei über Umweltschutz redete und ihn in ihr Programm schrieb. Der Bericht des „Club of Rome“ 1972 stieß im etablierten Parteiensystem allein bei den Liberalen auf Aufmerksamkeit.
In dieser Phase war die FDP die spannendste Partei, in der die entscheidenden gesellschaftlichen Diskussionen stattfanden. Dazu trugen Koryphäen wie Karl-Hermann Flach bei, damals ein intellektueller FDP-Generalsekretär, oder Ralf Dahrendorf, der polyglotte Soziologe. Es ist selten, dass in der Politik die gesellschaftlich relevanten Debatten geführt werden. Damals war es so, und die FDP war der Transmissionsriemen.