„Erdgas ist für die Grundversorgung des Industrielands Deutschland eine zwingend notwendige Brückentechnologie“, sagte Wolfgang Große Entrup, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie (VCI). „Der Ausstieg aus Kohle und Kernenergie macht bei schleppendem Erneuerbaren-Ausbau den Einstieg in neue Gaskraftwerke notwendig. Sonst gehen in der Industrie die Lichter aus.“
Für die Transformation der Industrie und der Energieversorgung „müssen wir mehr tun als auf Ausschaltknöpfe drücken“. Vielmehr müsse der „komplexe Prozess klug gestaltet“ werden, sagte Große Entrup weiter. Die Europäische Kommission habe daher Erdgas zu Recht in ihrem Taxonomie-Vorschlag berücksichtigt.
Den Plänen der EU-Kommission zufolge sollen Investitionen in Fuel- und Atomkraftwerke unter bestimmten Bedingungen als klimafreundlich eingestuft werden. Das geht aus einem Entwurf für einen Rechtsakt der Brüsseler Behörde hervor, der am Neujahrstag kurz nach dem Versand an die EU-Mitgliedstaaten öffentlich wurde.
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Konkret sieht der Vorschlag der EU-Kommission vor, dass vor allem in Frankreich geplante Investitionen in neue Atomkraftwerke als „grün“ klassifiziert werden können, wenn die Anlagen neuesten technischen Requirements entsprechen und ein konkreter Plan für den Betrieb einer Entsorgungsanlage für hoch radioaktive Abfälle ab spätestens 2050 vorgelegt wird.
BDEW: Investitionen in wasserstofffähige Gaskraftwerke zwingend notwendig
Investitionen in neue Gaskraftwerke sollen insbesondere auf Wunsch Deutschlands übergangsweise ebenfalls als grün eingestuft werden können. Dabei soll zum Beispiel related sein, wie hoch der Ausstoß an Treibhausgasen ist. Für Anlagen, die nach dem 31. Dezember 2030 genehmigt werden, wären dem Vorschlag zufolge nur noch bis zu 100 Gramm sogenannte CO2-Äquivalente professional Kilowattstunde Energie erlaubt – gerechnet auf den Lebenszyklus.
Bei einem modernen Kraftwerk, das mit Erdgas betrieben wird, liegt dieser Wert bei rund 350 Gramm. Der Wert von „bis zu 100 Gramm“ lässt sich nur erreichen, wenn Kraftwerke lediglich zu Beginn mit Erdgas betrieben werden, später dann aber beispielsweise mit grünem Wasserstoff oder Biogas.
Auch die Energiebranche sieht die Pläne der Kommission positiv. „Investitionen in wasserstofffähige Gaskraftwerke sind zwingend notwendig für den Übergang in eine vollständig klimaneutrale Energieversorgung in der Europäischen Union“, sagte Kerstin Andreae, Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW).
„Um die Versorgungssicherheit sicherzustellen, benötigen wir noch eine Zeit lang Erdgas und dauerhaft Gaskraftwerke für die gesicherte, regelbare Leistung als Companion der erneuerbaren Energien. Die Perspektive ist aber eindeutig: Die Zukunft liegt beim grünen Wasserstoff. Mittel- und langfristig können Gaskraftwerke mit Wasserstoff und damit klimaneutral betrieben werden“, ergänzte Andreae. Sie müssten heute bereits so geplant werden, dass sie zukünftig Wasserstoff als Energiequelle nutzen könnten.
Andreae verwies auf den Monitoringbericht des Bundeswirtschaftsministeriums zur Versorgungssicherheit. Der Bericht gehe davon aus, dass bei einem Kohleausstieg bis 2038 allein in Deutschland bis zum Jahr 2030 Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen (KWK-Anlagen) mit einer Gesamtleistung von 15 Gigawatt (GW) auf der Foundation von Fuel zugebaut werden müssten, um die Versorgungssicherheit bei Strom und Wärme zu gewährleisten und den Ausstieg aus Kohle- und Atomenergie auszugleichen.
„Über diese Anlagen hinaus, die neben Strom auch Wärme liefern, sind weitere zusätzliche Gaskraftwerkskapazitäten bis 2030 erforderlich, wenn der Kohleausstieg in Deutschland vorgezogen wird“, sagte Andreae.
Die Deutsche Energie-Agentur (Dena) hält die Vorschläge der Kommission mit Blick auf die Klassifizierung von Erdgas ebenfalls für sinnvoll: „Gerade die Energiewende in Deutschland wird nur funktionieren, wenn es für eine Übergangsphase unter bestimmten Bedingungen auch noch Investitionen zum Beispiel in Gaskraftwerke gibt. Diesem Umstand trägt die EU-Kommission mit ihrem Entwurf Rechnung“, sagte Dena-Chef Andreas Kuhlmann dem Handelsblatt. „Natürlich ist das nicht die lupenreine Lösung, aber ich habe auch Verständnis für die Entscheidung der Kommission. Wir werden in Europa Kompromisse machen müssen, wenn Energiewende und Klimaschutz gelingen und zugleich als weltweites Vorbild dienen sollen“, ergänzte er.
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sieht den Vorschlag der EU-Kommission dagegen kritisch. „Die Vorschläge der EU-Kommission verwässern das gute Label für Nachhaltigkeit“, sagte Habeck. Es sei falsch, ausgerechnet Atomenergie als nachhaltig zu etikettieren. „Es ist ohnehin fraglich, ob dieses Greenwashing überhaupt auf dem Finanzmarkt Akzeptanz findet.“
Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) kritisierte die Pläne der EU-Kommission zur Atomkraft als „absolut falsch“. Atomenergie sei „weder grün noch nachhaltig, sondern hochriskant“, twitterte Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge.
Während die Grünen-Politiker sich mit Blick auf die Klassifizierung von Erdgas nur zurückhaltend äußern, gehen Klimaschutzorganisationen in ihrer Kritik deutlich weiter. Sie halten die von der EU-Kommission vorgeschlagene Klassifizierung von Kernenergie und fossilem Fuel für gleichermaßen falsch. „Offenbar hat sich Bundeskanzler Olaf Scholz für die Aufnahme von fossilem Fuel in die Taxonomie eingesetzt und dafür im Gegenzug den französischen Wunsch nach Aufnahme der gefährlichen Atomkraft unterstützt“, hieß es in einer Mitteilung der Deutschen Umwelthilfe (DUH). „Atomkraft und Erdgas als nachhaltig zu kennzeichnen entzieht der Taxonomie jede Glaubwürdigkeit. Mit seiner Zustimmung riskiert Olaf Scholz darüber hinaus die klimapolitische Popularity der Bundesregierung“, sagte DUH-Geschäftsführer Sascha Müller-Kraenner. „Augen zu und durch, das scheint das Motto der EU-Kommission bei Atomkraft und Erdgas zu sein“, sagte Matthias Kopp vom WWF.
Umsetzung der Pläne kaum zu verhindern
In der Kommission hieß es am Wochenende, die Taxonomie liste Arten der Energieerzeugung auf, die es den Mitgliedstaaten ermöglichten, sich von ihren sehr unterschiedlichen Ausgangspositionen aus in Richtung des gemeinsamen Ziels der Klimaneutralität zu bewegen. Daher könnten unter bestimmten Voraussetzungen auch Lösungen sinnvoll sein, die auf den ersten Blick weniger „grün“ erschienen.
„Investitionen in solche Lösungen können aber auch einen Beitrag leisten, den notwendigen Wechsel von Energiequellen mit höheren Emissionen zu solchen mit geringeren Emissionen zu beschleunigen“, hieß es in der Kommission. Unter diesem Gesichtspunkt könnten auch Erdgas und Kernenergie auf dem Weg in eine überwiegend auf erneuerbaren Energien basierenden Zukunft eine Rolle spielen. Sie könnten dazu beitragen, den Übergang zu kohlenstoffarmen und somit klimafreundlicheren Energiesystemen zu erleichtern.
Die EU-Mitgliedstaaten haben nun bis 12. Januar Zeit, den Entwurf zu kommentieren. Seine Umsetzung kann nur verhindert werden, wenn sich mindestens 20 EU-Staaten zusammenschließen, die mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU vertreten, oder mindestens 353 Abgeordnete im EU-Parlament. Dies gilt als unwahrscheinlich, da sich neben Deutschland lediglich Länder wie Österreich, Luxemburg, Dänemark und Portugal klar gegen eine Aufnahme der Atomkraft aussprechen.
Mehr: Wie Frankreich die EU grundlegend verändert