„Der Friedensraum Weihnachtsmarkt wurde zerstört“, erklärt Landesbischof Friedrich Kramer beim Gedenken an die Opfer des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt. Die Bluttat könnte jedoch den Frieden der Stadt langfristig zerstören.
Simon Cleven berichtet aus Magdeburg
Simone Borris hat einen Wunsch. Am Samstagabend sprach die parteilose Oberbürgermeisterin von Magdeburg davon, wie die Stadt aus ihrer Sicht auf den Anschlag auf den Weihnachtsmarkt reagieren solle: „Ich wünsche uns allen, dass wir als Stadtgesellschaft uns davon nicht beeinträchtigen lassen“, sagte Borris während des Gedenkgottesdienstes im Magdeburger Dom.
Schaute man nur auf die Geschehnisse auf dem Domplatz, wo sich laut Polizeiangaben ab 18 Uhr am Samstag etwa 1.000 Menschen für eine Mahnwache zusammenfanden, könnte Optimismus aufkommen, dass Borris‘ Wunsch in Erfüllung geht.
Doch es gibt auch noch eine andere Seite. Wenige Hundert Meter vom Dom entfernt versammelten sich zur selben Zeit auf dem Hasselbachplatz laut Polizeiangaben 2.100 Neonazis, die den Appell der Oberbürgermeisterin in den Wind schlugen. Sie instrumentalisierten den Anschlag für ihre Zwecke, zeigten sich offen rassistisch.
Nicht einmal 48 Stunden sind seit der verheerenden Amokfahrt auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt vergangen. Doch eines steht wohl fest: Die Tat von Taleb A. hat die Landeshauptstadt nachhaltig erschüttert. In Magdeburg scheint sich ein Bruch aufzutun. Der Kampf um die Deutungshoheit über die Hintergründe des Anschlags tobt – und es scheint längst nicht ausgemacht, wer ihn für sich entscheidet.
Die Anteilnahme ist groß in Magdeburg. Vor der Johanniskirche, die gegenüber dem Tatort am Alten Markt liegt, finden sich über den Tag hinweg viele Menschen ein. Sie legen Blumensträuße, Trauergedecke oder Plüschtiere nieder. Einige verweilen in stiller Trauer, andere zünden Kerzen an. Bis zum Abend ist so ein buntes Blumenmeer entstanden, aus dem der Schein Dutzender Kerzen heraus leuchtet. Es ist nicht nur sprichwörtlich ein Lichtblick an diesem nasskalten Samstag.
Auch auf dem Domplatz ist die Anteilnahme eindrücklich spürbar. Die 1.000 Menschen, die sich dort versammelten, nutzten die Mahnwache für ein starkes Zeichen. In weitgehender Stille gedachten sie ab 18 Uhr der Opfer, hielten Kerzen in der Hand und warteten auf den Gedenkgottesdienst, der eine Stunde später stattfand.
Im Beisein von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) rief dort der Landesbischof der Evangelischen Kirche Mitteldeutschland, Friedrich Kramer, dazu auf, dem Gewalttäter keinen Raum zu lassen. „Die Gewalttäter der Welt sind Zerstörer der Friedensräume“, sagte er. „Der Friedensraum Weihnachtsmarkt wurde zerstört.“
Viele Menschen hatten zuvor versucht, in den Dom zu gelangen. Doch die Veranstaltung innerhalb des Kirchengemäuers war nur für geladene Gäste sowie Medienvertreter gedacht. Die Magdeburger Bürger mussten mit einer Liveübertragung auf einer auf dem Domplatz aufgebauten Leinwand und immer wiederkehrendem Nieselregen vorliebnehmen.
Über den Köpfen der Zuhörer kreisten schon vor dem Gottesdienst Polizeihubschrauber. Deren Interesse galt aber wohl vorrangig den Rechtsradikalen auf dem Hasselbachplatz. Führend vertreten waren insbesondere Größen der NPD-Nachfolgepartei „Die Heimat“ sowie offenbar viele Mitglieder der Jugendorganisation „Junge Nationalisten“.
Es sprach unter anderem Peter Schreiber, der seit einem Monat Bundesvorsitzender der rechtsextremen Partei ist als auch im vergangenen September für die ebenso rechtsextremen „Freien Sachsen“ bei der Landtagswahl kandidierte. Er rief zu einer „neuen deutschen Revolution“ auf und wiederholte den kontroversen, ehemaligen NPD-Wahlslogan „Migration tötet“.
Die Veranstaltung leitete zudem der durch die Organisation des Neonazi-Kampfsportevents „Kampf der Nibelungen“ bekannte Dortmunder Rechtsextremist Alexander Deptolla, der auch den ebenfalls aus Dortmund stammenden Stefan Kreuzig mitgebracht hatte. Deptolla ist nur einer von vielen westdeutschen Neonazis, die in den vergangenen Jahren Ostdeutschland für sich und ihre Zwecke entdeckt haben.