In einer der entlegensten Gegenden des Planeten lebt ein Volk, das zu den ältesten der Welt gehört. Wer die Reise dorthin wagt, kommt mit erstaunlichen Eindrücken zurück.
Vorsichtig fingert Clinton Walker ein Stück Krabbe aus der heißen Glut. Mit einem Handgriff knackt der Ngarluma-Mann den Panzer, zuzelt mit den Zähnen das weiße Fleisch heraus und wirft die ausgelutschte Karkasse zurück ins Feuer. Dann spült er mit einem Schluck Emu Lager nach. „Ich liebe Mangrovenkrabben, die sind besser als Hummer“, sagt er und lehnt sich lachend in seinen Campingstuhl zurück.
Kurz bevor die Flut kam, war Clinton zur Jagd in die Mangroven gestapft und mit drei prächtigen Mangrovenkrabben zurückgekommen. Anschließend haben er und seine Nichte Nicky das Camp aufgebaut, Feuer gemacht und die Meeresfrüchte gegrillt, die sie gesammelt haben. In der Dämmerung sitzt der Fünfzigjährige, Nachfahre australischer Ureinwohner, an einem Strand auf der Burrup-Halbinsel und schaut in den funkelnden Abendhimmel. „Weißt du, wie der Mond entstanden ist?“, fragt Clinton.
18 Stunden Fahrt sind es von der Millionenmetropole Perth bis nach Karratha, der Regionalhauptstadt der Pilbara. Mit der Propellermaschine sind es nur viereinhalb Stunden. Die Landschaft ist karg, aber betörend. Menschen kommen darin kaum vor. Gerade einmal 1,02 Einwohner pro Quadratkilometer zählt die Region im Nordwesten Australiens. Vom hektischen Treiben der Zivilisation ist hier nichts zu spüren, das Spektakuläre ist die Natur, mit ihrer ätherischen Weite und den verschwenderisch leuchtenden Farben.
Jahrtausendelang war die Pilbara nahezu unberührt, Menschen kamen und gingen, sie hinterließen ein Netz aus mythischen Geschichten. Es sind Geschichten aus der Traumzeit, als die Welt entstand, die sich die Ureinwohner und ihre Nachfahren bis heute zuraunen.
Am Lagerfeuer erzählt Clinton eine jener Dreamtime-Stories. Der Mond, so hieß es bei den Ngarluma, war ein fetter und ziemlich fauler Mann – hässlich obendrein. Es gab wohl Ärger mit den Frauen, die ihn hänselten, der Mond nahm ab, doch er konnte es nicht lassen, sich den Bauch vollzuschlagen, also nahm er wieder zu. Klassischer Jo-Jo-Effekt. So geht das bis heute. „Wenn der Mond so voll ist, lässt es sich am besten jagen“, sagt Clinton.
Clinton Walker jagt, seit er denken kann. So wie seine Eltern, seine Großeltern und alle seine Vorfahren. Seit mindestens 10.000 Jahren bevölkern die Ngarluma schon den westlichen Teil der Pilbara, gemeinsam mit ihrem Schwestervolk, den Yindjibarndi. Insgesamt reicht die Geschichte der Aborigines und Torres-Strait-Insulaner peoples auf dem fünften Kontinent sogar 65.000 Jahre zurück. Damit sind sie älter als alle anderen Kulturvölker. Seine Leute, sagt Clinton, zählten zu den kultiviertesten Menschen des Planeten. „Das ist eine Tatsache.“
In Australien gibt es nicht die Aborigines. Es gibt nur mehr als 600 Einzelvölker, Clans und Stämme, die sich in ihrer Lebensart und Sprache zum Teil deutlich unterscheiden. Der Sammelbegriff Aborigines stammt aus der Kolonialzeit und suggeriert eine angebliche Einheitlichkeit der indigenen Bevölkerungsgruppen, die so nie existierte. Im Englischen werden daher die Begriffe Indigenous peoples, First nation peoples, Aboriginal and Torres Strait Islander peoples oder einfach Aboriginal peoples verwendet.
Die Ureinwohner als überlegenes Volk? Das entspricht nicht unbedingt dem westlichen Blick auf indigene Völker. Beim Begriff „Ureinwohner“ entstehen meist andere Bilder im Kopf. Daran änderte auch Bruce Pascoes Bestseller „Dark Emu“ nichts, eine lesenswerte Spekulation über die kulturellen Errungenschaften der Aboriginal peoples, wissenschaftlich arg umstritten, aber enorm populär. Pascoe rehabilitierte das stereotype Bild vom australischen Ureinwohner als primitiven Nomaden.
Lange, bevor das erste Rad rollte, die Pyramiden standen, Guttenbergs Buchdruckpresse ratterte und die erste Facebook-Seite online ging, zogen auch Clintons Vorfahren schon durch Murujuga, wie sie das Land der Burrup-Halbinsel nennen. Sie fischten an den Küsten, pirschten durch das rote Hinterland und nutzten hoch entwickelte Techniken des Ackerbaus. Lange, bevor die Menschen in Europa das erste Brot backten, pflückten die Frauen der Ngarluma schon die Samen des Spinifex-Strauchs, mahlten daraus Mehl und machten Brot. Die Männer trugen auffällige Narben als Zeichen ihrer Jagderfolge.