Antisemitismus in Deutschland bleibt ein unbewältigtes Erbe – doch die Gesellschaft zieht sich in Abwehrhaltungen zurück. Statt Verantwortung für die Geschichte zu übernehmen, wird die Schuld oft verdrängt.
Der in Czernowitz geborene Lyriker Paul Celan dichtete in den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges: „Schwarze Milch der Frühe / wir trinken dich nachts / wir trinken dich mittags / der Tod ist ein Meister aus Deutschland.“ Sehr wahrscheinlich wählte er ebenfalls den Freitod, so wie einige andere bekannte Überlebende der Shoah, die sich in ihrem Werk mit dem Schrecken des deutschen Massenmords an Jüdinnen und Juden beschäftigten.
Die Überlebenden waren durch die Gräueltaten an ihnen, ihren Familien, ihren Freunden – den Millionen Jüdinnen und Juden – gezeichnet. Und sie waren von der Schuld des Überlebens geplagt.
Mit dieser psychischen Last befanden sie sich in einer Umwelt, die sich an ihnen störte. Sie irritierten die gesellschaftlichen und politischen Versuche, alles vergessen zu machen. Dabei währte doch offensichtlich fort, was am eigenen Tode nicht sterben wollte.
Monty Ott ist Autor, Politik- und Religionswissenschaftler. Er hat in Hannover studiert. Ott beschäftigt sich in seinen Schriften häufig mit Themen wie jüdischer Identität, Geschichte und Erinnerungskultur. Anfang 2023 ist sein gemeinsam mit Ruben Gerczikow verfasster Reportageband „Wir lassen uns nicht unterkriegen – Junge jüdische Politik in Deutschland“ erschienen. Monty Ott lebt und arbeitet in Berlin.
Die Alliierten hatten Deutschland und seine Verbündeten militärisch besiegt. Das bedeutete aber nicht das Ende des Weltbildes, das zum industriellen Massenmord und dem Vernichtungskrieg geführt hatte. Das nationalsozialistische Regime hatte mit seiner Propaganda den Antisemitismus bis in jedes Quäntchen der Gesellschaft getrieben.
Der Judenhass hatte seine Bedeutung in der deutschen Kultur noch einmal ins Unermessliche gesteigert. Panzer und Gewehre konnten zwar das Ende des Mordens in Konzentrations- und Vernichtungslagern, auf Feldern und in Schluchten und Wäldern erzwingen. Aber das galt nicht für das Weltbild, das diese Verbrechen motiviert hatte.
Bis heute ist die Vorstellung sehr lebendig, dass große Teile der postnazistischen Gesellschaft wie auf einen Schlag ihr demokratisches Wesen entdeckten. Und bis heute quälen sich viele Menschen mit dem Eingeständnis, dass die eigenen Vorfahren direkt oder indirekt an dem singulären Menschheitsverbrechen beteiligt gewesen waren. Das ist die Konsequenz familiärer Erzählungen, die Schuld und Verantwortung abwehren.
Im „Multidimensionalen Erinnerungsmonitor“ aus dem Jahr 2020 lässt sich nachlesen, dass volle 35,8 Prozent der Befragten glaubten, ihre eigenen Vorfahren seien Opfer des Nationalsozialismus gewesen. Ein knappes Drittel war immerhin davon überzeugt, die Vorfahren hätten Opfern geholfen.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 entlud sich in ganz Deutschland und Österreich eine massive Welle antisemitischer Gewalt: Nationalsozialisten zerstörten jüdische Geschäfte, Synagogen und Wohnungen. Rund 400 jüdische Menschen wurden ermordet, etwa 30.000 in Konzentrationslager verschleppt. Die Reichspogromnacht, oft zynisch „Reichskristallnacht“ genannt, markierte den Übergang von Diskriminierung zu systematischer Verfolgung, die schließlich in die Shoah und den Massenmord an Millionen Jüdinnen und Juden mündete.
In den vergangenen fünf Jahren sind die Wellen des Antisemitismus in immer kürzeren Abständen aufeinander gefolgt. Wer Antisemitismus heute anspricht, darf dabei nicht in allzu deutsche Gewohnheiten verfallen. Es ist der immer gleiche Reflex: Der Antisemitismus wird exklusiv in einer bestimmten Gruppe vermutet. Manche sind weiterhin überzeugt, dass er nur bei Neonazis und der extremen Rechten zu finden ist. Andere davon, dass die politische Linke oder Migranten die neuen Antisemiten seien.
Das aber ist furchtbar vereinfacht. Und es frustriert. Es sollte doch eigentlich Allgemeinwissen sein – besonders hierzulande, wo man in Teilen stolz auf die angebliche Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ist –, dass der Antisemitismus ein gesamtgesellschaftliches Problem ist. Er schafft es, ganz verschiedene politische Gruppierungen aneinander zu binden. Doch überall vernehmen wir den leidenschaftlichen Abwehrreflex. Auch davon erzählen die vergangenen fünf Jahre. Eine kurze Zusammenfassung.
Man erinnere sich an die rechtsterroristischen Anschläge in Halle und Wiedersdorf sowie Hanau, bei denen die Täter aus einem ähnlichen ideologischen Gemisch aus Antisemitismus, Rassismus und Misogynie gehandelt haben.
Man erinnere sich, dass sich während der Corona-Pandemie nicht nur das Virus ausbreitete, sondern auch der stärkere Glaube an Verschwörungserzählungen. Das gepaart mit einer Opferhaltung selbst ernannter „Querdenker“, die sich „Judensterne“ mit der Aufschrift „Ungeimpft“ anhefteten.
Man erinnere sich an die physische und verbale Gewalt im Kontext der militärischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und palästinensischen Terrororganisationen 2021 und 2022.
Der Antisemitismus tritt so normalisiert zutage, wie seit dem Ende der Shoah nicht mehr. Viele Schlagbäume der Grenzen des Sagbaren wurden in den vergangenen Jahren abgebaut. Immer offener wird deutlich, was der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn beobachtet hat: „Ganz gleich, welches antisemitische Ressentiment in Deutschland öffentlich kommuniziert wird: Eine explizite oder implizite Form der Abwehr der Schuld und Verantwortung für den Nationalsozialismus und die Shoah hat daran immer einen Anteil.“