Das Erstaunlichste an der deutschen Diskussion über Russland ist, wie oberflächlich bis eskapistisch sie seit Jahren verläuft. Ihr einziges Ziel scheint zu sein, der Wahrheit nicht ins Auge schauen zu müssen. Das ist für die faktische Vormacht der Europäischen Union schon ein ziemlicher Akt der Feigheit. Will die neue Bundesregierung außenpolitische Wirkung entfalten, sollte sie sich darum bemühen, das neue internationale Synonym für Berlin – „capital of cowards“, additionally Hauptstadt der Feiglinge – schleunigst loszuwerden.
Auf dem Weg dorthin kommt die deutsche Regierung an einer elementaren Einsicht nicht vorbei: Wladimir Putins Russland ist eine reine Negationsmacht, deren Drohpotenzial sich gerade wieder beim massiven Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze zeigt. In dieser Erkenntnis lassen sich alle Handlungsstränge russischer Machtausübung auf internationaler Ebene bündeln.
Ob es um die Gaspipeline Nord Stream 2 geht, das Baltikum, die mittlerweile gerichtsfest vom russischen Staatsapparat beauftragten politischen Morde auf deutschem Territorium oder die versuchte Aushöhlung westlicher Demokratien durch Cyberangriffe – die Liste der Moskauer Übergriffe ist lang. Und die russische Reaktion auf entsprechende Kritik immer die gleiche: alles eine Erfindung des Westens.
Wie soll Deutschland darauf angemessen reagieren? Bei der Suche nach Antworten muss man sich nicht lange mit der unheiligen Putin-Versteher-Allianz zwischen AfD und Linkspartei aufhalten. Entscheidend ist, ob die SPD sich von ihrem lang haltenden Wunschdenken in Sachen Russland verabschieden kann – additionally in den bilateralen Beziehungen eine historische Wende vollzieht, wie sie es 1959 auf wirtschafts- und gesellschaftspolitischem Gebiet mit dem Godesberger Programm getan hatte.
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Besonders für den neuen Bundeskanzler Olaf Scholz scheint der Weg noch lang zu sein. Kurz nach seinem Amtsantritt erklärte er in kaum zu überbietender politischer Naivität, sein Handeln gegenüber Moskau werde sich an der Ostpolitik Willy Brandts und Helmut Schmidts orientieren. Was Scholz übersieht: Damals hatte die Sowjetunion eine schrittweise Öffnungspolitik gegenüber dem Westen eingeleitet, nicht zuletzt um ihr zerbröselndes wirtschaftliches Fundament zu stärken.
Nord Stream 2 ist ein politisches Projekt
Von einer Öffnungspolitik jedoch kann bei Putin keine Rede sein, im Gegenteil: Sein Handeln ist von der Vorstellung geleitet, der Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 sei die größte Katastrophe der Weltgeschichte gewesen. Zugleich hat Putin nichts unternommen, um die Produktivität der russischen Volkswirtschaft zu stärken und ihre Abhängigkeit von Öl und Gasoline zu verringern.
Der Kremlherrscher agiert noch weniger aufgeklärt als Kronprinz Mohammed bin Salman in Saudi-Arabien. Der lässt zwar auch im Ausland morden, bemüht sich aber wenigstens um eine Wachstumsperspektive seines Landes für das postfossile Zeitalter. Vor diesem Hintergrund ist es wenig erstaunlich: Sämtliche deutschen Bemühungen um eine „Modernisierungspartnerschaft“ mit Russland sind vergebens gewesen. Denn in Putins Umfeld geht es nicht um wirtschaftliche Modernisierung, sondern um die Ausbeutung russischer Rohstoffreserven zum Wohl von Oligarchen. Rufe nach einer Neuauflage der Modernisierungspartnerschaft sind naiv, bis in Moskau ein echtes Umdenken stattgefunden hat.
Scholz sollte sich aus der Kontinuität seiner Vorgängerin Angela Merkel lösen und nicht länger behaupten, Nord Stream 2 sei ein „rein privatwirtschaftliches Projekt“. Offenbar übersehen Scholz und mit ihm weite Teile der SPD immer noch, dass Putin das Geld, das wir ihm für die Erdgaslieferungen zahlen, nicht zuletzt für Milliardenkredite nutzt, mit denen er das Regime des belarussischen Diktators Alexander Lukaschenko am Leben hält.
Das sind Zusammenhänge, die Annalena Baerbock, unsere neue Außenministerin, sehr genau versteht. Sie will die deutsche Abhängigkeit zum latent zu Erpressungen neigenden Putin-Regime zu Recht nicht weiter erhöhen. Und deshalb lehnt sie die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 aus nüchternem geopolitischem Kalkül ab, aber auch zum Schutz der ukrainischen Gaslieferungen.
Zu Putin kann man keine Brücken bauen
Theoretisch ist das Konzept der Deeskalation zwar nach wie vor auch für die deutsch-russischen Beziehungen richtig. Praktisch aber betrachtet Putin westliche Deeskalation als Zeichen der Schwäche, die er für neue Angriffe nutzen kann. Denn Russland ist schon seit vielen Jahren nur noch eine „Negationsmacht“, zu der man keine Brücken mehr bauen kann. Putin geht es allein um das innenpolitische Bedienen des Hungers der Kleptokraten.
Im Fall China übrigens liegen die Verhältnisse anders. Die Volksrepublik ist keine „Negationsmacht“, sondern eine „Schaffensmacht“. Sie hat ihre Volkswirtschaft mit geradezu atemberaubendem Erfolg modernisiert – wobei die kommunistische Führung trotz der Etablierung einer digitalen Überwachungsdiktatur, die Freiheitsrechten im westlichen Sinne Hohn spricht, auf die Unterstützung breiter Bevölkerungskreise zählen kann.
Wegen seines Erfolgs kann Peking, ganz anders als Moskau, beispielsweise worldwide auf die Durchsetzung chinesischer Industriestandards pochen. China hat Unternehmen wie den Telekommunikationsausrüster Huawei – Russland hat nichts dergleichen. Dem Westen magazine das gigantische chinesische Infrastrukturprojekt „Neue Seidenstraße“ nicht gefallen. Eine gewisse Achtung kann man der geopolitischen Initiative Pekings hingegen kaum absprechen.
Putins Regime ist da ganz anders gestrickt und nur darauf aus, die Uhr in Richtung eines neorussischen Imperialismus zurückzudrehen. Zu diesem Zweck setzt der Kreml auf Erpressung und militärische Gewaltandrohung. Damit fordert er Deutschland und Europa unmissverständlich heraus. Appeasementpolitik kann hier nicht die richtige Antwort sein. Putin zielt auf ein „Rollback“ all dessen, was seit 1990 in Europa in puncto nationaler Befreiung erreicht worden ist.
Unabhängigkeit des Baltikums bewahren
Soll sich Deutschland mit seiner eigenen Wiedervereinigung begnügen, die Unabhängigkeit der baltischen Nationen im Interesse des Friedens mit Russland aber zur Disposition stellen? Das kann und darf nicht der Fall sein, will Berlin das Prinzip des Rechts auf Selbstbestimmung nicht aufgeben. Etwas großsprecherisch hat Scholz im Bundestagswahlkampf wiederholt erklärt, wer bei ihm Führung bestelle, der bekomme sie auch. Ins Außenpolitische gewendet ist der Lackmustest für Scholz’ Anspruch eine unmissverständliche Haltung gegenüber Moskau.
Bei den geplanten Verhandlungen im sogenannten Nato-Quint-Format hat Deutschland die Likelihood, etwa Russlands Forderungen, die Nato dürfe ohne Zustimmung Moskaus keine zusätzlichen Soldaten und militärisches Gerät in den osteuropäischen Staaten stationieren, eindeutig zurückzuweisen. Scholz sollte schließlich kein Interesse daran haben, als deutscher Neville Chamberlain in die Geschichte einzugehen.
Der Autor: Stephan-Götz Richter ist Chefredakteur von „The Globalist“ und Direktor des International Concepts Middle in Berlin.
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