Die in diesem Artikel geäußerten Meinungen sind die des Autors und spiegeln in keiner Weise die redaktionelle Position von Euronews wider.
Wir haben die Wahl: Entweder wir wollen zu der Generation gehören, die entschieden gegen AMR vorgeht und so unsere Gesundheit und die Gesundheit künftiger Generationen schützt. Oder wir wollen zu der Generation gehören, die die vor uns liegende Chance verspielt und damit möglicherweise die moderne Medizin, wie wir sie kennen, gefährdet, schreibt Dr. Hans Henri P. Kluge.
Jeder kennt Penicillin. Es ist eines der am häufigsten verschriebenen Medikamente der Welt. Und genau hierin liegt das Problem.
Penicillin war das erste Antibiotikum und wurde 1928 entdeckt. Es revolutionierte die Gesundheitsfürsorge. Patienten mussten nicht mehr wegen kleiner bakterieller Infektionen sterben oder sich Gliedmaßen amputieren lassen.
Millionen von Leben konnten gerettet werden und Dutzende weiterer Antibiotika wurden seitdem entwickelt.
Doch jetzt stehen wir an einem Wendepunkt. Diese „leichten“ Infektionen werden wieder lebensbedrohlich. Viele Infektionen sind immer schwieriger zu behandeln, und medizinische Eingriffe – wie Operationen und Chemotherapie – sind deutlich riskanter geworden.
Wie sind wir hierher gekommen?
In den letzten Jahrzehnten haben viele Bakterien eine Resistenz gegen Antibiotika entwickelt. Dies ist ein natürlicher Prozess, der im Laufe der Zeit durch genetische Veränderungen in den Bakterien entsteht.
Allerdings wird dieser Prozess vom Menschen beschleunigt, beispielsweise durch unsachgemäßen Gebrauch – etwa wenn eine Antibiotikabehandlung vor Abschluss der verordneten Kur abgebrochen wird – oder durch falsche Diagnosen, etwa wenn Ihr Arzt Ihnen Antibiotika gegen eine Virusinfektion verschreibt, gegen die Antibiotika wirkungslos sind.
Dies wird als antimikrobielle Resistenz (AMR) bezeichnet und stellt heute eine der größten Bedrohungen für die öffentliche Gesundheit weltweit dar.
Medizinische Durchbrüche des letzten Jahrhunderts werden vor unseren Augen zunichte gemacht, aber dennoch erfährt diese „stille Pandemie“ außerhalb des öffentlichen Gesundheitswesens nur sehr wenig Aufmerksamkeit.
Wir wissen bereits, dass Antibiotikaresistenzen jährlich direkt für über eine Million Todesfälle verantwortlich sind und indirekt mit fünf Millionen Todesfällen weltweit in Zusammenhang stehen. Um dies ins Verhältnis zu setzen: Die gesundheitliche Belastung durch Antibiotikaresistenz ist vergleichbar mit der von Grippe, Tuberkulose und HIV/AIDS zusammen.
In der Europäischen Region der WHO, die 53 Mitgliedsstaaten in Europa und Zentralasien umfasst, sind antimikrobielle Resistenzen bereits für 133.000 Todesfälle pro Jahr direkt und 541.000 Todesfälle indirekt verantwortlich. Und diese Zahlen steigen weiter.
Wenn sich bei dieser Rate nichts ändert, werden bis 2050 weltweit jährlich über 10 Millionen Menschen an antimikrobiellen Resistenzen sterben.
Wir haben einen Plan, wie wir dieses Problem angehen
Auch wenn sich die Antibiotikaresistenzkrise rasch ausbreitet, wissen wir, was wir tun müssen, um sie aufzuhalten. Im vergangenen Jahr einigten sich die 53 WHO/Europa-Mitgliedsstaaten auf den Antibiotikaresistenz-Fahrplan 2023-2030, der vorrangige Maßnahmen in der Region vorsieht. Unser Fahrplan enthält verfügbare Belege für wirksame Instrumente zur Bekämpfung von Antibiotikaresistenzen.
Erstens müssen wir die Zahl der Infektionen reduzieren, die mit Antibiotika behandelt werden müssen.
Dies bedeutet, dass Infektionen durch geeignete Infektionsschutzmaßnahmen von vornherein verhindert werden müssen. Darüber hinaus müssen Routineimpfungen sowie eine gute Wasser-, Sanitär- und Hygieneversorgung sichergestellt werden, insbesondere in Krankenhäusern und anderen Gesundheitseinrichtungen.
Zweitens müssen wir den Einsatz von Antibiotika beim Menschen, bei Tieren und in der Landwirtschaft reduzieren.
Im Rahmen eines umfassenden Stewardship-Programms benötigen wir mehr diagnostische Tests, um eine gezielte Behandlung sicherzustellen. Angehörige der Gesundheitsberufe benötigen entsprechende Schulungen und Unterstützung, um evidenzbasierte Richtlinien für die Verschreibung von Antibiotika einzuhalten.
Antibiotika, die für die Humanmedizin von entscheidender Bedeutung sind, müssen in der Veterinär- und Landwirtschaft umsichtig eingesetzt werden, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt eng miteinander verknüpft sind – ein „One Health“-Ansatz.
Drittens müssen wir uns gegenseitig durch klare Ziele zur Verantwortung ziehen.
Messbare Ziele ermöglichen es uns, unsere Bemühungen und Ressourcen auf Schlüsselbereiche zu konzentrieren und Regierungen, Gesundheitsdienstleister und Organisationen zum Handeln zu motivieren.
Das WHO-Regionalbüro für Europa entwickelt derzeit gemeinsam mit der London School of Economics den ersten AMR-Verantwortlichkeitsindex für Europa und Zentralasien , der durch die Verabschiedung des AMR-Fahrplans im letzten Jahr bereits breite Unterstützung seitens unserer 53 Mitgliedstaaten erfährt. Das WHO-Regionalbüro für Europa plant, den Index im Jahr 2025 einzuführen. Er soll die Fortschritte im Bereich AMR vergleichen und die Mitgliedstaaten bei ihren Reaktionsbemühungen unterstützen.
Viertens brauchen wir Partnerschaften – mit Regierungen, der Pharma-, Agrar- und Lebensmittelindustrie, der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft.
Die meisten großen Pharmaunternehmen haben sich aus der Antibiotikaforschung und -entwicklung zurückgezogen, da Antibiotika oft weniger profitabel sind als andere Medikamente. Doch um die „katastrophale Bedrohung“ durch die zunehmende AMR einzudämmen, werden dringend neue Antibiotika benötigt.
Das Problem der Antibiotikaresistenz lässt sich allerdings nicht allein durch die Subventionierung der Forschung lösen. Wir müssen auch das Engagement der Bevölkerung und das öffentliche Bewusstsein stärken.
Wofür werden wir uns entscheiden?
Da wir in diesem Monat am Rande der 79. Sitzung der UN-Generalversammlung einem hochrangigen Treffen zum Thema AMR entgegensehen, rufe ich zu mehr globaler Führung, Engagement, Handeln und Solidarität auf.
Wir haben die Wahl: Wir wollen der Generation angehören, die entschiedene Maßnahmen gegen AMR ergreift und so unsere Gesundheit und die Gesundheit künftiger Generationen schützt.
Oder wir wollen zu der Generation gehören, die diese Chance vertan hat und damit möglicherweise die moderne Medizin, wie wir sie kennen, gefährdet.
Die Wahl liegt auf der Hand.
Dr. Hans Henri P. Kluge ist seit 2020 Regionaldirektor der Weltgesundheitsorganisation für Europa.
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