Istanbul Der Kurssturz der türkischen Lira trifft die deutsche Wirtschaft. „Der weitere Kursverfall der türkischen Lira macht es deutschen Unternehmen immer schwieriger, in die Türkei zu exportieren“, sagt Volker Treier, Außenwirtschaftschef des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), dem Handelsblatt. „Viele türkische Kunden können sich unsere Waren schlicht nicht mehr leisten.“
Stamer fürchtet zudem eine steigende Anzahl Pleiten türkischer Unternehmen. „Die Krise der türkischen Lira erhöht das Risiko von Insolvenzen für einige Unternehmen deutlich.“ Türkische Importeure seien am stärksten von einer drastischen Schwächung der Lira betroffen „und deshalb jetzt teilweise anfälliger“.
Die türkische Lira ist vor der in dieser Woche erwarteten erneuten Zinssenkung auf ein Rekordtief gefallen. Ihr Kurs gab zu Wochenbeginn zeitweise auf bis zu 14,99 zum US-Greenback nach, ein Minus von rund sieben Prozent.
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Die Zentralbank griff deshalb bereits zum vierten Mal binnen zwei Wochen am Devisenmarkt ein: Wegen „ungesunder Preisbildung“ verkaufte sie Greenback, um die eigene Währung zu stützen. Seit Jahresbeginn hat die Lira rund die Hälfte ihres Wertes eingebüßt.
Hinzu kommt: Die Zentralbank hat rapide an Ansehen bei Investoren verloren, was dem Wert der türkischen Währung ebenfalls schadet. Dazu hat Präsident Recep Tayyip Erdogan beigetragen, der immer wieder Zinssenkungen gefordert und drei Notenbankchefs binnen zweieinhalb Jahren verschlissen hat, was die Unabhängigkeit der Währungshüter massiv infrage stellt.
Für diesen Freitag erwarten von der Nachrichtenagentur Reuters befragte Ökonomen, dass die Zentralbank ihren Zinssatz erneut senken wird – und zwar von aktuell 15,0 auf dann 14,0 Prozent. Die Inflationsrate liegt derzeit bei mehr als 21 Prozent.
Deutschland ist wichtigster Handelspartner und einer der größten ausländischen Investoren in der Türkei: 2020 betrug das bilaterale Handelsvolumen 36,6 Milliarden Euro. Doch die schwache Lira verteuert nicht nur Waren und Dienstleistungen innerhalb des Landes, sondern bringt auch das Handelsgefüge durcheinander.
So seien die Ausfuhren in die Türkei beispielsweise im August ebenso wie im Oktober um 30 Prozent eingebrochen, berichtet Dirk Jandura, Präsident des Außenhandelsverbands BGA. Betroffen seien demnach vor allem Exportwaren wie Maschinen, Autos und Autoteile sowie chemische Produkte.
Einige deutsche Unternehmen profitieren hingegen vom Lira-Absturz
Laut aktuellem „AHK World Enterprise Outlook“ des DIHK sehen 73 Prozent der befragten deutschen Unternehmen in der Türkei den Wechselkurs als eines der größten Geschäftsrisiken für die kommenden zwölf Monate – ein Rekord. Als Zweites folgen die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen mit 62 Prozent.
Die Exportkrise könnte sich noch an anderer Stelle in deutschen Firmenbilanzen bemerkbar machen: über Abschreibungen auf ausstehende Zahlungen. Es seien sehr viele türkische Unternehmen in Auslandswährung verschuldet, was im Zuge des Lira-Verfalls auch bei diesen die Risiken deutlich erhöht, meint Kreditversicherungsexperte Stamer. „Allein 2022 werden Schulden in Devisen von Unternehmen und Banken in Höhe von rund 120 bis 150 Milliarden US-Greenback zur Rückzahlung fällig.“
Je nach Wechselkurs zum Zeitpunkt der fälligen Rückzahlung und finanzieller State of affairs der jeweiligen Unternehmen sei es fraglich, ob alle diese Schulden zurückzahlen können.
Nicht alle deutschen Firmen leiden. Wer in der Türkei lediglich produziert und dann ins Ausland verkauft, für den gibt es constructive Effekte wie geringere Reallöhne und günstige Exporte. Wenn die Firma selbst in Euro oder Dollar bilanziert, dann sinken die in Lira ausgezahlten Reallöhne. Auch werden Investitionen in der Türkei günstiger.
Der deutsche Pharmahersteller Boehringer Ingelheim zum Beispiel ist jüngst eine Partnerschaft mit Abdi Ibrahim Prescription drugs eingegangen, dem größten Pharmazeutika-Hersteller der Türkei. Mittelfristig will das deutsche Unternehmen 150 Millionen Lira investieren. Anfang des Jahres wären das noch intestine 17 Millionen Euro gewesen, inzwischen sind es neun Millionen Euro.
Zwei Theorien, warum die türkische Regierung die Wirtschaftskrise laufen lässt
Kurzfristig freue man sich über günstigere Preise türkischer Exporteure, sagte auch Marc Brüning, Geschäftsführer von Heinrich Brüning, einer Firma, die Nüsse und Trockenfrüchte aus der Türkei einkauft, gegenüber der „Lebensmittelzeitung“.
„Denn die Lieferanten können die Preise nicht so schnell anheben, wie die türkische Lira fällt.“ Langfristig aber könnten die türkischen Unternehmen den Währungsverfall nicht durchhalten. Pleiten seien nicht ausgeschlossen.
Zur in der Türkei üblichen Volatilität im Tagesgeschäft hinzu geselle sich ein messbarer Geschäftsverlust deutscher Konzerne. Gleichzeitig steigerten türkische Firmen ihre eigenen Exporte wie noch nie.
Im November stiegen die Ausfuhren türkischer Firmen um 33,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat. Der türkische Aktienindex BIST 100 hat seit Oktober um 56 Prozent zugelegt.
Es kursieren derzeit zwei Theorien, warum die türkische Regierung unter Staatschef Erdogan die Währungskrise laufen lässt. Die erste könnte man als „türkischen Merkantilismus“ bezeichnen.
Die Regierung versuche, mit dem Brecheisen das notorische Handelsdefizit der türkischen Volkswirtschaft zu überwinden. Seit Jahrzehnten sind die Importe deutlich höher als die Exporte. Dadurch müssen türkische Firmen und Haushalte jedes Jahr Kredite aufnehmen, um ihren Konsum zu finanzieren.
Eine schwache Währung macht Importe teurer und Exporte billiger. Dadurch würde sich das Handelsdefizit mittelfristig in einen Überschuss umwandeln. Doch der Weg dahin ist weit und ein wirklicher Erfolg unvorhersehbar. Schließlich müssen auch die türkischen Exporteure viele Zwischenprodukte importieren. Die Rechnung geht schlicht für einige türkische Firmen nicht auf.
Die Mannheimer Firma BLG Kardesler, die an Außenstandorten in der Türkei Lebensmittel für den Verkauf nach Deutschland produziert, verweist beispielsweise auf teure Verpackungen und Vorprodukte, die „auf Euro- oder US-Greenback-Foundation aus dem Ausland“ gekauft werden müssten.
Nach der zweiten Theorie, die derzeit kursiert, könnte die Regierung die derzeitige Krise bewusst in Kauf nehmen, um später einen politischen Ausnahmezustand auszurufen. Die Logik: Die Umfragewerte von Erdogan und seiner AKP sind so schlecht, dass sie die nächsten Wahlen voraussichtlich verlieren würden.
Mit der politisch herbeigeführten Lira-Schwäche und dem daraus folgenden Chaos hätte die Regierung einen Grund, den Ausnahmezustand auszurufen. Und dann könnte Staatschef Erdogan die Wahlen entweder unter streng begrenzten Freiheitsrechten durchführen oder sie gleich absagen.
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