Ständig zu prognostizieren, der weltweite Inflationsanstieg sei nur vorübergehend, ist ein verhängnisvoller Fehler. Europäische Notenbanker(innen) sollten nicht länger gebetsmühlenhaft verlautbaren, der Preisdruck werde schon bald wieder nachlassen. Stattdessen wäre es besser, der Öffentlichkeit und den Finanzmärkten zu sagen: „Das Wiederaufflammen der Inflation – in einigen führenden Industrieländern hat sie den höchsten Stand seit 30 oder auch 40 Jahren erreicht – ist eine ernste Angelegenheit.“
Ihrem Mandat entsprechend sind die Notenbanken aufgerufen, das Inflationsproblem energisch anzugehen. Von der Jahresschlusssitzung des Rats der Europäischen Zentralbank (EZB) am 16. Dezember muss deshalb ein klares Sign ausgehen: Die Zeit der Beschwichtigung ist vorbei!
Nach der pandemiebedingten Rezession befindet sich die Weltwirtschaft in einem labilen Zustand. Reagieren Notenbanken vernünftig und moderat auf Inflationsrisiken, werden sie die Erholung der Konjunktur eher verlängern als gefährden.
Handeln sie jetzt aber nicht, könnte der Aufschwung stark gebremst werden. Denn die Inflation wird die Realeinkommen senken, was hohe Lohnforderungen von Gewerkschaften und Arbeitnehmern nach sich ziehen dürfte. Womöglich droht dann eine Lohn-Preis-Spirale.
Die Ursachen der gegenwärtigen Inflation sind vielfältig und komplex. Einige von der Angebotsseite ausgehende Probleme – unterbrochene internationale Lieferketten, Abschwächung der Globalisierung, restriktive Politik der Ölförderländer – werden sich zwar abschwächen, andere Probleme aber bleiben: So müssen sich zum Beispiel die im Zuge von Corona durch erzwungenen Konsumverzicht gebildeten privaten Ersparnisse irgendwann wieder auflösen.
Und auch ein Ende der Hausse auf dem Immobilienmarkt, die zu steigenden Mieten führt, ist trotz politischer Gegenmaßnahmen nicht in Sicht. Die Inflationsstatistiken spiegeln den Mietanstieg zwar nur unzureichend wider – aber schon diese beiden Faktoren haben erhebliche Auswirkungen auf das allgemeine Preisniveau. Es ist additionally illusorisch, so zu tun, als würden sie einfach verschwinden.
Niedrigzinspolitik erhöht finanzielle Anfälligkeiten
Ein großes Risiko besteht darin, dass eine zu zögerliche Abkehr der Notenbanken von der lockeren Geldpolitik diese später zu einer viel abrupteren Wende und entsprechender Liquiditätsverknappung zwingen dürfte. Das würde der Weltwirtschaft eindeutig größere Schäden zufügen, als wenn die Notenbanken rechtzeitig auf die Bremse träten.
Ein jüngst veröffentlichtes „Working Paper“ der Financial institution für Internationalen Zahlungsausgleich zeigt: Die langjährige Niedrigzinspolitik führt dazu, finanzielle Anfälligkeiten zu erhöhen und produktive Investitionen zu verhindern.
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Die beiden wichtigsten Notenbanken der Welt beraten über einen strafferen Kurs. Schon jetzt steht fest: Die Schere zwischen den USA und Europa geht 2022 auseinander. Lesen Sie hier die Handelsblatt-Analyse.
Der amerikanische Notenbank-Chef Jerome Powell hat die Zeichen der Zeit inzwischen erkannt. Anfang dieses Monats erklärte er in einer Kongressanhörung, mit Blick auf die Inflationsentwicklung das Wort „vorübergehend“ aus seinem Sprachschatz zu streichen. „Das Risiko höherer Inflation hat zugenommen“, sagte er. Tatsächlich ist die Inflationsrate in den USA zuletzt auf 6,8 Prozent gestiegen – der höchste Wert seit vier Jahrzehnten.
Powell signalisierte, die Fed werde ihre Politik der „quantitativen Lockerung“ wohl schon einige Monate vor dem zunächst geplanten Datum Juni 2022 beenden. Das ist ein starkes Sign – und vor allem für die Europäer eine dringende Botschaft.
Die hohen Corona-Inzidenzzahlen und die neue Omikron-Variante machen es der EZB natürlich nicht leichter. Dennoch sollte sie jetzt bestätigen, dass ihr Pandemie-Notfallkaufprogramm (PEPP) am 31. März 2022 endgültig auslaufen wird. Möglicherweise könnte sie im Rahmen des bereits seit einigen Jahren bestehenden Asset Buy Programme (APP) eine bescheidene, zeitlich begrenzte Aufstockung ihrer Staatsanleihekäufe in Erwägung ziehen. So würde die relative geldpolitische Straffung an den Finanzmärkten keine allzu große Nervosität auslösen.
Raschere Erhöhung des Leitzinssatzes
Allein von einer Verminderung der Staatsanleiheankäufe geht jedoch keine substanzielle Zinsverteuerung aus. Die Realzinsen bleiben aufgrund der hohen Inflationsraten extrem negativ. Als Gegenleistung für die Fortsetzung der „normalen“ APP-Anleiheankäufe sollte die EZB deshalb direkte Zinssteigerungen in Aussicht stellen.
Die Zentralbank sollte jetzt klarmachen, dass der EZB-Leitzinssatz für die Einlagenfazilität – zurzeit minus 0,5 Prozent – noch vor und nicht erst kurz nach dem Ende (wie sie es bisher formuliert hat) der Staatsanleiheankäufe erhöht wird.
Eine solche Ankündigung würde die beabsichtigte Reihenfolge des Einsatzes ihres geldpolitischen Instrumentariums ändern. Vorrangige Aufgabe der EZB ist die Preisstabilität. Eine geänderte Reihenfolge ihrer künftigen Kreditverknappungsschritte ist wegen der erhöhten Inflationsraten dringend notwendig.
Bislang beruht die Logik der EZB auf der Annahme, die Inflationsrate werde ab dem kommenden Jahr wieder auf das Zwei-Prozent-Ziel zurückgehen. Das aber erscheint schon angesichts der Tatsache zweifelhaft, dass der von der US-Notenbank bevorzugte Inflationsindikator mittlerweile für die kommenden zwölf Monate in den USA eine Inflationsrate von fünf Prozent anzeigt. Auch in der Europäischen Union dürfte sich die Inflation als hartnäckiger erweisen als noch vor einiger Zeit angenommen.
Denn zumindest die Entwicklung einer gewissen Lohn-Preis-Spirale ist im Jahr 2022 durchaus möglich. Die Unternehmer wären bestrebt, hohe Lohnforderungen mit deutlichen Preissteigerungen zu kontern – mit einer Tendenz zur Gewinnmaximierung. Hinzu kommt: Schon allein die Überalterung der westlichen Gesellschaften wird für einen verschärften Arbeitskräftemangel sorgen, der die Place von Arbeitnehmern und Gewerkschaften in Tarifkämpfen tendenziell stärken dürfte.
Abwarten macht das Leben nicht leichter
Außerdem müssen die Volkswirtschaften sich im Kampf gegen die globale Klimakrise auf eine radikale Transformation einstellen. Die Dekarbonisierung aber ist nicht zum Nulltarif zu haben, sie wird vielmehr teuer. Es gibt also eine ganze Reihe von strukturellen Faktoren, die auf eher höhere als niedrigere Inflationsraten hindeuten.
Normalerweise sollten Zentralbanken ihre Geldpolitik straffen, wenn Inflation droht und zumindest in einigen Wirtschaftssegmenten Überhitzungsanzeichen erkennbar sind. Stattdessen haben wir bislang das Gegenteil gesehen: eine deutliche De-facto-Lockerung. Der Anstieg der Inflation von einem auf zuletzt 4,4 Prozent führte bislang nicht zu einer signifikanten Korrektur der negativen EZB-Zinssätze und der Anleiheankäufe.
Dies mit der Zusicherung zu begründen, der Preisdruck sei nur „vorübergehend“, reicht längst nicht mehr aus. Für die EZB ist es an der Zeit, den geldpolitischen Rückwärtsgang einzulegen. Eine Politik des Abwartens macht das Leben nicht leichter – weder für die Notenbanken noch für die Wirtschaft.
Die Autoren: Jacques de Larosière battle Direktor des französischen Schatzamts, geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds, Gouverneur der Banque de France und Präsident der Europäischen Financial institution für Wiederaufbau und Entwicklung. David Marsh ist Mitbegründer und Vorsitzender des unabhängigen Thinktanks Official Financial and Monetary Establishments Discussion board (OMFIF), der sich mit Zentralbanken, Wirtschaftspolitik und öffentlichen Investitionen befasst.