Kein Politiker hat als Parlamentarier und als Minister über so viele Jahrzehnte die Bonner und die Berliner Republik geprägt wie Wolfgang Schäuble. Ein Nachruf auf einen Mann, dessen Loyalität immer größer war als sein Machtwille.
Im Korrespondentenleben sammeln sich im Laufe der Jahrzehnte Hunderte von Begegnungen mit Politikern an. Von bleibender Erinnerung sind allenfalls ein bis zwei Handvoll. Wolfgang Schäuble war ein Mann, der diese Momente bereithalten konnte und den man deshalb nie vergessen wird. Streng genommen hat er mir beim ersten Aufeinandertreffen beigebracht, wie Politik funktioniert.
Einmal im Jahr gab der Mann aus dem nordbadischen Gengenbach der heimatlichen Badischen Zeitung ein Interview. Es war noch zu Bonner Zeiten, Helmut Kohl regierte und Schäuble hielt die Unionsfraktion zusammen. Die erfahrene Kollegin des Parlamentsbüros nahm den Autor als jungen Hüpfer mit zum Interview, und als der sich im Laufe des Gesprächs darüber echauffierte, dass bei diesen unseligen Kompromisssuchen immer nur Halbgares herauskommt, schaute Schäuble den Gast in seinem Büro mit dieser unnachahmlichen Mischung aus Tadel und Milde und einem durchdringenden Blick an, der bis auf die Knochen ging. „Junger Mann“, sagte er dann, „der Kompromiss ist die höchste Kunst in der Politik. In der Politik geht es immer darum, einen Kompromiss zu finden. Das ist deshalb kein Schimpfwort, sondern ein Ehrentitel.“
Keine Berliner Republik ohne Schäuble
Die auslaufende Bonner und erst recht die Berliner Republik ist ohne Wolfgang Schäuble nicht denkbar. Übrigens hat er mit seiner historischen Rede im Bonner Plenarsaal maßgeblich dazu beigetragen, dass der Regierungsumzug überhaupt stattfand. Zugespitzt kann man sagen: Ohne Schäuble gäbe es gar keine Berliner Republik.
Er war irgendwie immer da, als Minister, als Fraktionschef, als Bundestagspräsident. Und diese Mischung aus Milde und Strenge, die er in der Lehrstunde dem jungen ungestümen Korrespondenten der Badischen Zeitung zuteilwerden ließ, zeichnete ihn zeit seines politischen Lebens aus.
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Quelle: Reuters
Es gibt wenige politische Persönlichkeiten, die sich so zurücknehmen konnten und dabei doch immer präsent geblieben sind. Seine Souveränität, seine Selbstdisziplin und sein Blick für das Bevorstehende machten ihn erhaben, ohne dabei eine Arroganz an den Tag zu legen, die er sich mindestens am Ende seiner Laufbahn als dienstältester Parlamentarier des Deutschen Bundestages hätte herausnehmen können.
Eine einzige Begebenheit ist in Erinnerung, in der er die Contenance verlor und seinen Mitarbeiter, in dem Fall seinen Pressesprecher, vor versammelter Medienmeute zur Schnecke machte, weil dieser die Unterlagen nicht schnell genug zur Hand hatte. Der Mann kam aber später wieder zu Kräften. Bruno Kahl, der einstige Schäuble-Sprecher, den seinerzeit der Schäuble-Blitz traf, ist heute der Chef der deutschen Geheimdienste.
Die oberste Tugend des Wolfgang Schäuble
Die oberste Tugend des Wolfgang Schäuble war zugleich sein Verhängnis – in dem Sinne, dass er wegen seiner Bereitschaft bis ins Mark loyal zu sein, nie die Nummer eins wurde. Er diente Helmut Kohl ebenso ergeben wie Angela Merkel, auch wenn die eine oder andere Bemerkung den politisch Feinhörenden deutlich machte, dass Merkel für ihn nicht in der gleichen Liga unterwegs war wie der Mann aus Oggersheim, der tatsächlich auch mehr Geschichte geschrieben hat.
Dabei war ihm stets Wolfgang Schäuble zu Diensten. Die Wiedervereinigung, die Kohl einen Platz in den Geschichtsbüchern sicherte, hat er zusammen mit seinem Ost-Counterpart Günther Krause in ein Vertragswerk gegossen. In dieser Zeit stand Schäuble in der Blüte seiner politischen Kraft. Und just in diesem Zenit ereilte ihn ein Schicksalsschlag ungefähr zur gleichen Zeit wie Oskar Lafontaine, dem er deshalb bei aller politischen Gegensätzlichkeit menschlich eng verbunden bleibt. Bei einem Attentat am 12. Oktober 1990 verletzte der psychisch kranke Dieter Kaufmann den damaligen Innenminister Schäuble sowie einen weiteren Mann während einer Wahlkampfveranstaltung in Oppenau mit Schüssen aus einem Revolver. Seit dem Attentat war der bis dahin leidenschaftliche und ordentliche Tennisspieler Schäuble vom dritten Brustwirbel an abwärts gelähmt und auf einen Rollstuhl angewiesen.