Zwölf Jahre lang war Norbert Lammert Bundestagspräsident. Heute plädiert er als Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung für eine Anpassung der Schuldenbremse und erklärt, warum er gegen ein AfD-Verbot ist.
Es dämmert bereits, als Norbert Lammerts Sprecher in dessen Büro in der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin lädt, unweit der CDU-Parteizentrale. Lammert sitzt noch am Schreibtisch, den Stift in der Hand, einen Stapel Bücher neben sich. Er blickt hoch: „Ah, guten Abend“, steht auf. Es kann losgehen.
Obwohl er nicht mehr in der täglichen Bundespolitik aktiv ist, verfolgt er diese noch immer intensiv: die Haushaltskrise ebenso wie die Diskussion um den Entwurf zum Grundsatzprogramm der CDU. Im Gespräch erklärt er, was er über den darin enthaltenen Satz „Muslime, die unsere Werte teilen, gehören zu Deutschland“ denkt. Und er verrät, was er an der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel schätzt.
t-online: Herr Lammert, Sie haben in Ihrer Zeit im Bundestag auch schwierige Zeiten miterlebt, die Finanzkrise, die Flüchtlingskrise … Schocken Sie die Krisen der Gegenwart noch?
Norbert Lammert: Die allerjüngsten Ereignisse, die sich am und nach dem 7. Oktober in Israel abgespielt haben, haben mich tatsächlich geschockt. Einen solchen Zivilisationsbruch wie den bestialischen Terrorangriff der Hamas hätte ich mir nicht vorstellen können. Insofern: Krise und Krise ist nicht dasselbe.
Angesichts dessen: Ist die Aufregung über die haushaltspolitische Krise in
Deutschland übertrieben?
Die innenpolitischen Herausforderungen haben durchaus ein ungewöhnliches Ausmaß erreicht und sind alles andere als normal. Aber einen Blick für Proportionen sollte man schon noch bewahren.
Wie gravierend ist dann das Urteil des Bundesverfassungsgerichts?
Es bedeutet eine Zäsur in der Haushaltspolitik: Denn es wirkt sich über den Wortlaut des beklagten Nachtragshaushalts hinaus auch auf andere „Sondervermögen“ aus. Das macht auch schon der Zeitaufwand deutlich, den die Ampel brauchte, um mit den Konsequenzen dieses Urteils operativ zurande zu kommen.
Zur Person
Norbert Lammert, 75, ist seit fast 60 Jahren CDU-Mitglied und war 37 Jahre lang Abgeordneter im Deutschen Bundestag. Dessen Präsident war er bis 2017, der bisher einzige, der das Amt über drei ganze Legislaturperioden hinweg ausübte. Seit 2018 ist er Vorsitzender der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung. Er ist seit mehr als 50 Jahren mit seiner Frau verheiratet und hat vier Kinder.
Friedrich Merz bezeichnet das Ergebnis, das dabei nun herausgekommen ist, als „übliche Trickserei“. Hat er recht?
Die Besorgnis liegt jedenfalls nahe, schließlich behalten sich der Kanzler und der Finanzminister für den Haushalt 2024 vor, bei notwendigen zusätzlichen Ausgaben noch mal die Schuldenbremse auszusetzen.
Wäre das so schlimm? Sie selbst haben schließlich bei der Einführung der
Schuldenbremse 2009 als Einziger in der Union gegen sie gestimmt.
Das hatte einen anderen Grund. Sie wurde damals mit einem riesigen Paket von Verfassungsänderungen im Kontext einer Föderalismusreform eingeführt, die ich im Ganzen nicht gelungen fand. Denn sie führte einmal mehr dazu, dass Zuständigkeiten der Länder zugunsten des Bundes mit der Aussicht auf Finanzzuweisungen abgetreten wurden. Das sah ich nicht erst mit der damaligen Föderalismusreform kritisch.
SPD und Grüne halten eine Reform der Schuldenbremse für dringend notwendig. Können Sie dem etwas abgewinnen?
Dazu gibt es unterschiedliche Positionen sowohl innerhalb der Koalition wie der Opposition. Ich glaube, dass es auch im Lichte der jüngeren Erfahrung zweckmäßig ist, eine Schuldenaufnahme verfassungsrechtlich zu begrenzen. Es ist aber auch durchaus sinnvoll, über Anpassungen nachzudenken, also ob die Schuldenbremse unterschiedslos für investive wie für konsumtive Ausgaben gelten muss oder ob durch Notlagen begründete Ausgaben im gleichen Jahr und keinen Monat länger erfolgen müssen.
Das sieht der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz anders. Er sagt, unabhängig von der Art der Ausgaben: Es reiche, im Haushalt zu priorisieren.
Für die Entscheidung in Haushaltsfragen ist der Deutsche Bundestag zuständig. Das gilt auch für die Frage, ob und in welchem Umfang er für die vereinbarten Ausgaben Schulden aufnimmt.
Marode Brücken und Straßen, die Sanierung der Bahn, der Ausbau regenerativer Energien: Ist der Investitionsbedarf nicht auch enorm?
Doch, aber wir haben kein Einnahmeproblem. Die Steuereinnahmen des Bundes sind in diesem Jahr höher als in Vor-Corona-Zeiten. Man muss zudem berücksichtigen, dass durch die deutliche Anhebung des Zinsniveaus zusätzliche Schulden die öffentlichen Haushalte inzwischen ungewöhnlich hoch belasten. Im vergangenen Jahr lag die Zinsbelastung im Bundeshaushalt bei 4 Milliarden, in diesem Jahr schon bei 19 Milliarden und im nächsten Jahr wird sie bei 40 Milliarden liegen. Jeder, der fröhlich für eine großzügigere Schuldenaufnahme plädiert, muss die Frage beantworten: Ist eine so hohe Zinsbelastung für künftige Generationen vertretbar?