Berlin Auch wenn der Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP für das Handwerk viel Positives enthält, so sieht Hans Peter Wollseifer doch eine entscheidende Leerstelle: „Grundsätzliche Reformansätze, mit denen der Sozialversicherungsbereich zukunftsfit und generationengerecht gemacht wird, fehlen“, sagte der Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH) dem Handelsblatt.
Zumindest hätte er erwartet, dass die 40-Prozent-Marke bei den Sozialversicherungsbeiträgen festgeschrieben wird. „Stattdessen drohen bei Gesundheit, Pflege oder Rente Mehrausgaben und steigende Beiträge.“
Mit seiner Kritik steht der Handwerkspräsident nicht allein da: „Der 40-Prozent-Deckel für die Sozialbeiträge sollte den Reformdruck deutlich machen, der sich allein mit Blick auf die demografische Alterung ergibt“, sagte der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, dem Handelsblatt. „Hier hat die neue Bundesregierung nichts zu bieten.“
Und der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Rainer Dulger, betont, die Bundesregierung sollte auch Respekt vor dem Nettoeinkommen der Beschäftigten haben, das nicht durch weiter steigende Sozialbeiträge geschmälert werden dürfe: „Legen wir die Hände in den Schoß und tun nichts, dann wird die 40-Prozent-Marke fallen. Das dürfen wir nicht einfach akzeptieren.“
Prime-Jobs des Tages
Jetzt die besten Jobs finden und
per E-Mail benachrichtigt werden.
Für 2021 hatte die Große Koalition noch eine „Sozialgarantie“ beschlossen. Coronabedingte Mehrausgaben wurden mit Steuergeld beglichen, um die 40-Prozent-Marke bei den Sozialbeiträgen sichern zu können.
Eine „reasonable“ Anhebung des Pflegebeitrags bereits angekündigt
Die neue Bundesregierung hält eine Stabilisierung zwar noch für erstrebenswert. „Wir wollen, dass die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbelastungen nicht weiter steigen“, sagte der neue FDP-Fraktionschef Christian Dürr kürzlich dem Handelsblatt. „Und daran können Sie die Ampelregierung messen.”
Aber Dürr dürfte kaum seine Hand dafür ins Feuer legen, dass die Marke nicht doch gerissen wird. Denn eine Beitragssatzerhöhung haben SPD, Grüne und FDP in ihrem Koalitionsvertrag schon angekündigt – bei der Pflege. In der Arbeitslosenversicherung steht das Ende der noch von der Großen Koalition beschlossenen zeitlich begrenzten Beitragssenkung an.
Und bei Gesundheit und Rente lässt allein die Alterung der Gesellschaft steigende Ausgaben erwarten. Ohne Reformen in den sozialen Sicherungssystemen droht ein Anstieg der Beitragsbelastung auf 43,2 Prozent zum Ende dieser Legislaturperiode und auf 45 Prozent bis 2030, warnen die Ökonomen Thiess Büttner und Martin Werding.
Es ist additionally wahrscheinlich, dass die Summe der Beiträge, die heute bei 39,95 Prozent liegt, im Laufe der Wahlperiode die 40-Prozent-Marke übersteigen wird. Anja Piel, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), findet das nicht dramatisch.
Denn klar sei: „Mit einer dauerhaften isolierten Festschreibung schränkt man Handlungsspielräume ein“, sagte Piel, die auch Alternierende Vorsitzende des Verwaltungsrats der Bundesagentur für Arbeit (BA) sowie des Bundesvorstands der Deutschen Rentenversicherung (DRV) ist, kürzlich vor Journalisten.
Für die Ampel dürfte sich das Downside zunächst in der gesetzlichen Kranken- und der Pflegeversicherung stellen, die schon heute vor einem gewaltigen Finanzloch stehen. Allein 2021 musste der Bund mit einem Rekordzuschuss von 28,5 Milliarden Euro die Krankenkassen stabilisieren, um höhere Beiträge für die Versicherten abzuwenden – mit steigender Tendenz.
Denn der nötige Zuschuss wird nach Berechnungen aus Krankenkassenkreisen 2022 bereits bei knapp 31 Milliarden Euro liegen. „Ich halte es für völlig ausgeschlossen, dass die Ampel die Krankenkassenbeiträge in den kommenden vier Jahren stabil halten kann”, sagt ein Kassen-Chef.
Er hält einen Sprung von einem halben Beitragssatzpunkt für möglich. Bislang beträgt der gesetzlich festgeschriebene Beitragssatz in der gesetzlichen Krankenversicherung 14,6 Prozent, dazu kommt 2022 im Schnitt ein Zusatzbeitrag von 1,3 Prozent. Diesen Zusatzbeitrag haben einem Bericht der „Welt am Sonntag“ zufolge 19 von 97 gesetzlichen Kassen zum Jahreswechsel erhöht.
Fest steht bereits, dass der Beitrag zur gesetzlichen Pflegeversicherung steigen wird, der derzeit bei 3,05 Prozent liegt. Diesen Beitrag „heben wir moderat an“, haben SPD, Grüne und FDP im Koalitionsvertrag verabredet. Kinderlose erwartet schon 2022 eine Beitragssteigerung: Sie zahlen dann 3,40 statt bisher 3,30 Prozent ihrer beitragspflichtigen Einnahmen in die Pflegeversicherung ein.
Bei der Rente könnte sich die Koalition im Wahljahr mit Beitragsdebatten konfrontiert sehen
In der Rentenversicherung hatte die gute Arbeitsmarktentwicklung der zurückliegenden Jahre zu steigenden Beitragseinnahmen geführt, die es erlaubten, bei niedrigen Beiträgen Leistungsausweitungen wie die Mütterrente zu finanzieren. Seit 2018 liegt der Beitragssatz bei 18,6 Prozent und wird nach der Finanzschätzung der Deutschen Rentenversicherung (DRV) auch bis 2023 noch auf diesem Niveau verharren.
Doch gehen ab Mitte des Jahrzehnts die geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge in den Ruhestand, was den Anstieg der Beitragseinnahmen dämpft und die Ausgaben in die Höhe treibt. Nach Einschätzung der Bundesregierung wird die Zahl der beitragspflichtig Beschäftigten von aktuell 38,9 Millionen noch bis 2023 leicht ansteigen und dann in den kommenden 15 Jahren um neun Prozent abnehmen.
Zwar kann die Rentenversicherung in der nahen Zukunft die demografische Entwicklung noch durch ein Abschmelzen der gesetzlichen Nachhaltigkeitsrücklage dämpfen. Doch für 2024 rechnet sie mit einem Anstieg des Beitragssatzes auf 19,5 Prozent, ein Jahr später sollen es dann schon 19,7 Prozent sein.
Ohne Reformen steigen die Beiträge danach weiter auf 22,3 Prozent im Jahr 2035, während das Rentenniveau im selben Zeitraum auf 45,7 Prozent absinkt. Die Ampelkoalition hat sich aber zum Ziel gesetzt, das Rentenniveau „dauerhaft“ bei 48 Prozent zu stabilisieren.
Der wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium hält dies allerdings „für keine langfristig tragbare Lösung“, wie er Mitte 2021 in einem viel beachteten Gutachten schrieb, für das er sich viel Kritik vom damaligen Vizekanzler und jetzigen Regierungschef Olaf Scholz (SPD) anhören musste.
Denn soll das Rentenniveau bei 48 Prozent stabil gehalten und der Beitragssatz nicht über 20 Prozent steigen – so wie es die „Rentengarantie“ der Großen Koalition bis 2025 vorsieht –, müsste im Jahr 2045 nach Berechnungen des Rats die Hälfte des Bundeshaushalts in die Rentenkasse fließen.
Ein immer höherer Steuerzuschuss an die Rentenversicherung könne aber nicht die Lösung sein, betont IW-Direktor Hüther. Er schlägt eine Kopplung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung vor. Auch eine Erhöhung der Jahresarbeitszeit über eine Anpassung der Wochenarbeitszeit an die in der Schweiz könne helfen, die Einnahmen der Sozialkassen zu stabilisieren. Bei den Eidgenossen arbeiteten Erwerbstätige im Durchschnitt zwei Wochenstunden mehr als hierzulande.
„Die Regierung gibt zu erkennen, dass sie – aus Angst vor einem Konflikt – kein demografiepolitisches Reformkonzept hat“, kritisiert Hüther. „Das ist die größte Schwachstelle des Koalitionsvertrags.“ Immerhin wollen SPD, Grüne und FDP den sogenannten Nachholfaktor schon vor der 2022 anstehenden Rentenanpassung wieder einführen, was die Erhöhung dämpft und die Finanzen der Rentenkasse schont. Dennoch könnte die Ampel sich ausgerechnet im Wahljahr 2025 mit Debatten über steigende Rentenbeiträge konfrontiert sehen.
Steigen wird zudem der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung. Weil die BA eine Rücklage von quick 26 Milliarden Euro aufgebaut hatte, senkte die Große Koalition den Arbeitslosenbeitrag ab Januar 2020 befristet auf 2,4 Prozent. Ab Januar 2023 wird er nach geltendem Recht wieder auf 2,6 Prozent angehoben.
IAB schlägt eine Beitragserhöhung um „einige Zehntelprozentpunkte“ vor
Wegen der coronabedingten Mehrausgaben für Kurzarbeiter- und Arbeitslosengeld ist die Rücklage der BA längst aufgebraucht. Zur Deckung ihrer Ausgaben hat der Bund die Arbeitslosenversicherung bisher mit 24 Milliarden Euro unterstützt.
Da die BA schon bald wieder auf eigenen Füßen stehen soll und auch wieder eine Rücklage für kommende Krisen aufbauen muss, könnte der Ampel additionally auch hier eine Debatte über eine frühere oder höhere Beitragssatzanhebung blühen.
So brachte das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) gerade eine Beitragserhöhung um einige Zehntelprozentpunkte ins Spiel. „Die Bundesagentur braucht eine ausreichende Finanzreserve, um in Rezessionen nicht sofort auf die Liquiditätshilfen des Bundes zurückgreifen zu müssen“, heißt es in einer neuen Studie des Nürnberger Instituts.
Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hatte schon im vergangenen Frühjahr im Handelsblatt-Interview erklärt, dass er die 40-Prozent-Marke bei den Sozialbeiträgen für wichtig hält, sie aber auch nicht um jeden Preis garantieren will. Ziel sei, die Beiträge auch über die Krise hinaus stabil zu halten. „Aber ich sage jetzt nicht, wir frieren alles ein.“
Mehr: 63 Milliarden Euro pro Jahr – Darum ist Arbeitslosigkeit in Deutschland so teuer.